Freitag, 16. September 2011

Ein Jahr nach Sarrazin

 Necla Kelek, die in ihrer Diplomarbeit das Gegenteil dessen schrieb, wie in ihren Bestsellern

Ein Jahr nach Thilo Sarrazins Bestseller "Deutschland schafft sich ab". Ein Jahr, in dem weltweit viel passierte was wahrlich bedeutsamer ist - und sein wird für die Weltgeschichte.
Auch bald ein Jahr seit Gründung dieses Blogs, nicht zuletzt aufgrund der damaligen Debatte. Ich hatte hier schon mehrfach diverse Artikel zum Thema verfasst.
Dieses hier soll keine Bilanz werden, sondern ein Rückblick auf ein Forenposting von mir, welches schon vor einem Jahr das Dilemma beschrieb was ursächlich für den Erfolg eines Sarrazin, Necla Kelek, etc. mitverantwortlich war:

Die öffentliche Meinung, und Großteile der veröffentlichten Meinung durch die Journalisten, folgen lieber ihren Vorurteilen statt der wissenschaftlichen Empirie.
Als Kronzeugen und Bestätigung dienen dann solche Bestseller von Thilo Sarrazin, Necla Kelek, Seyran Ateş, Henryk M. Broder, und Co.

...Bei diesen Werken handelt es sich um eine Mischung aus Erlebnisberichten und bitteren Anklagen gegen den Islam, der durchweg als patriarchale und reaktionäre Religion betrachtet wird. ...
Allerdings sollte man annehmen, dass Verwaltung und Ministerium dem interessierten Publikum eine Literatur empfehlen, die eine aufklärende Wirkung hat, also eine Literatur, deren Aussagen wissenschaftlich abgesichert sind. Tatsächlich ist aber genau das Gegenteil der Fall – bei den erwähnten Büchern handelt es sich um reißerische Pamphlete, in denen eigene Erlebnisse und Einzelfälle zu einem gesellschaftlichen Problem aufgepumpt werden, das umso bedrohlicher erscheint, je weniger Daten und Erkenntnisse eine Rolle spielen.
Die Literatur ist unwissenschaftlich und arbeitet ganz offensichtlich mit unseriösen Mitteln. Necla Kelek beispielsweise hat vor etwa drei Jahren ihre Dissertation zum Thema Islam und Alltag vorgelegt, in der sie zu ganz anderen Ergebnissen kommt als in Die fremde Braut.
...
Offenbar wurden hier die eigenen – und zwar wissenschaftlich abgesicherten – Erkenntnisse mutwillig verbogen, um am Buchmarkt einen Erfolg zu landen und sich dabei selbst als authentischen und vorgeblich wissenschaftlich legitimierten Ansprechpartner für alles, was mit »den Türken« oder »dem Islam« zu tun hat, in Szene zu setzen. Das Kalkül geht auf, von der taz bis zur ZEIT wird Kelek gern konsultiert, wenn es darum geht, »türkische« oder »islamische« Verhaltensweisen zu deuten.
...
Wir, die Verfasser und Unterzeichner dieses offenen Briefes, sind Forscher und Forscherinnen, die zu unterschiedlichsten Facetten des Themas Migration gearbeitet haben – zu Generationenbeziehungen, Zugehörigkeit, Islamvorstellungen, Lebensentwürfen, Ethnizität und Ethnisierung, Rassismus und Identitätsentwicklung.
In den letzten Jahren hat sich in Deutschland eine quantitativ und qualitativ-empirische Migrationsforschung entwickelt, die international anschluss- und konkurrenzfähig ist. Wenn auch Unterschiede existieren, was die theoretische Rahmung der Befragungsergebnisse betrifft, so gibt es doch ganz erstaunliche Übereinstimmungen in den Ergebnissen unserer Forschung.
...
Es wird also Zeit, eine rationale Diskussion über die zukünftige Gestaltung der Einwanderungsgesellschaft zu führen. Doch das kann man nicht auf der Grundlage von Boulevardliteratur tun, sondern indem man sich auf Erkenntnisse stützt, die auf rationale Weise gewonnen wurden."

60 Forscherinnen und Forscher unterschrieben diesen Offenen Brief:

Liane Aiwanger, Prof. Dr. Georg Auernheimer, Hayrettin Aydin M.A., Prof. Dr. Sigrid Baringhorst, Dipl.Päd. Sonja Bandorski, Dipl.-Sozialarbeiterin Isabel Basterra, Prof. Dr. Johannes Bastian, Robin Bauer, Prof. Dr. Ursula Boos-Nünning, Prof. Dr. Christoph Butterwegge, Ibrahim Cindark, Prof. Dr. Helene Decke-Cornill, Dr. Christoph Fantini, Schahrzad Farrokhzad, Prof. Dr. Hannelore Faulstich-Wieland, Prof. Dr. Helena Flam, Dr. Sara Fürstenau, Prof. Dr. Klaus F. Geiger, Prof. Dr. Ingrid Gogolin, Heike Mónika Greschke, Dr. Ursula Günther, Dr. Encarnation Gutierrez Rodriguez, Dr. Maria Hallitzky, Prof. Dr. Franz Hamburger, Prof. Dr. Gudrun Hentges, Prof. Dr. Leonie Herwartz-Emden, Prof. Dr. Havva Engin, Dipl.-Päd. Matthias Hofmann, Dr. Merle Hummrich, Dr. phil. Dipl.-Päd. Telse A. Iwers-Stelljes, Dr. Margarete Jäger, Prof. Dr. Siegfried Jäger, Prof. Dr. Barbara John, Elli Jonuz, Dipl.-Psych. Birsen Kahraman, Prof. Dr. Annita Kalpaka, Serhat Karakayali, Prof. Dr. Gritt Klinkhammer, Christoph Kodron, Dr. Annette Kracht, Dipl.-Psych. Angela Kühner, Dr. Susanne Lang, Dr. Rosa Maria Jiménez Laux, PD Dr. Rudolf Leiprecht, Prof. Dr. Ingrid Lohmann, PD Dr. Helma Lutz, Dipl.-Soz. Melanie Mahabat Bahar, PD Dr. Paul Mecheril, Dipl.-Päd. Claus Melter, Dipl.-Päd. Stephan Münte-Goussar, Prof. Dr. Ursula Neumann, Dr. Heike Niedrig, Dr. Ulrike Ofner, Mag. Dr. Nikola Orning, Dipl.-Psych. Berrin Özlem Otyakmaz, Prof. Dr. Karl-Josef Pazzini, Dr. Matthias Proske, Dr. Regina Römhild, Prof. Dr. Hans-Joachim Roth, Dr. Rosemarie Sackmann, Jörn Schadendorf, Dipl.-Päd. Anne Schondelmayer, Inga Schwarz, Uschi Sorg, Dr. Ugur Tekin, Prof. Dr. Dietrich Thränhardt, Dr. Anja Weiß, PD Dr. Erol Yildiz, Cigdem Yoksulabakan.
Quelle:
Petition auf der ZEIT



Leider hat dieser Aufruf von 2006 (!) zur Wissenschaftlichkeit zurückzukehren wenig genutzt, denn die Vorurteile in Presse und Öffentlichkeit, die Pauschalisierungen, die Unkenntnisse, usw. blieben weitgehend zumindest bis 2010 erhalten, auch wenn bei der Sarrazin-Diskussion versucht wurde Teile der veröffentlichten Meinung, einige "Fakten" des Sarrazin zu demaskieren, wird vieles von ihm beim öffentlichen Publikum leider hängenbleiben, wie es bei bisher jedem Bestseller geschehen ist (seit Betty Mahmoodi's Phantasiegeschichte).


Polittalk "Maybritt Illner" zum Thema "Kampf der Kulturen: Sarrazins Spiel mit der Ausländerangst"
1. Teil (weitere Teile bei Youtube anschaubar)

Das Problem an der ganzen Diskussion ist die unseriöse Grundlage der Diskussion, und wenn dann mal ein/e MigrationsforscherIn (zum Beispiel bei Maybrit Illner) zu Wort kommt, wird einerseits ihr entweder nicht geglaubt, auch wenn 95% der deutschen Migrationsforscher zu den gleichen Ergebnissen kommen, oder es wird lächerlich gemacht, indem Wissenschaft per se als Unfug bezeichnet wird (wie in der Sendung durch Broder), oder es wird Göbbels zitiert ("Glaube keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast" so Broder), oder es wird ihr ein Irrtum unterstellt (so der schweizer Rechtspopulist Köppel), ungeachtet davon, ob 95% der Wissenschaft die gleichen Ergebnisse haben - ABER: Im gleichen Atemzug werden die eigenen Vorurteile und Zerrbilder der Muslime dadurch versucht abzusichern, indem die gleichen Daten (oder ältere Daten) der Migrationsforschung verwendet werden, nur eben unwissenschaftlich bis wahrheitsbeugend verwendet. Absurd! Was nun, ist Wissenschaft per se ungeeignet, Herr Broder? Sind alle Statistiken unbrauchbar, Herr Broder? Warum verwenden Sie dann Bücher als Grundlage, die diese Statistiken ebenfalls verwenden, Herr Broder? Was ist denn die Alternative zur Wissenschaft Herr Broder? Das eigene Spazierengehen durch Problembezirke, und anhand der Dachform der Häuser schätzen, wieviele Bewohner wohl zwangsverheiratet sind, Herr Broder?

Wenn alle Wissenschaftler sagen, die Welt ist eine Kugel, die Amish-People aber sagen, die Welt ist eine Scheibe, was sich auch mit ihrer subjektiven Erfahrung deckt, ist dann die Welt eine Scheibe, Herr Broder?

Oder sind alle Wissenschaftler in Deutschland in einer Verschwörung, gesteuert von den Illuminaten oder vom Spagettimonster? Gilt das auch für Migrationsforscher weltweit? Oder haben sie in 5 Jahren Studium, 15-25 Jahren Forschung auf ihrem Fachgebiet nur Däumchen gedreht, damit sie mal von Sarrazin in seinem in der Freizeit hingeklatschtes Werk aufgezeigt zu bekommen, wie "die Wahrheit" aussieht? Sind das alles hunderte Wissenschaftler-Deppen, Herr Broder, aber das Dutzend oft als Laien bekannte Bestseller-Autoren die "wirklich" Schaffenden von Wissen, Herr Broder?

Hauptsache die sich selbst ins wissenschaftliche Abseits manövrierte Kelek oder Sarrazin sollen Recht behalten?

Wieso lesen Sie eigentlich nie mal die zahllosen (auch weltweiten) Forschungsergebnisse in den Büchern der Migrationsforscher, Politologen, Soziologen, usw., Herr Broder? Wenn Sie sich schon auf fachfremdes Terrain wagen wollen? Weil darin für jedermann nachvollziehbar und auch für Laien verständlich aufgedröselt wird, was in den Bestsellern alles falsch verstanden, interpretiert, verfälscht, unseriös und dubios ist?

Es ist egal wer wissenschaftliche Forschung betreibt, solange diese den wissenschaftlichen Ansprüchen genügt und in der obigen Sendung ging es um Pauschalisierungen über Muslime (die so und so seien, und zwar nur oder hauptsächlich aufgrund der Religion), und dieses durch alte Zahlen (oder gar ausgedachte Zahlen) von Sarrazin belegt werden sollte, und Dr. Naika Foroutan den aktuellen Stand der Wissenschaft (das eben nicht ursächlich die Religion des Islams der alleinige Grund sein kann, sondern andere Faktoren) dem entgegen hielt, indem sie die Zahlen der Italiener in der Bildung, der Kriminalität der Vietnamesen, die Bildungs-Erfolge der Iraner, Iraker, Afghanen, usw. aufzeigte, und damit diese Broderscher Thesen ins Reich der Paranoia verwies!
Von mir aus kann Foroutan auch ein Alien sein, der dieses erläutert. Hauptsache ist doch, dass dieses einen wissenschaftlicher Konsens darstellt. Das ist wirklich simpelste Falsifikation, und von jedem Studenten im ersten Studienjahr kinderleicht zu erbringen!

Hat sich nun die veröffentlichte Meinung bezüglich Integrationsthemen seitdem geändert? Ich weiß es nicht, ihr eventuell? Vielleicht ein wenig zum Besseren. Zumindest gab es genügend Massenmedien, die damals im Zuge der Sarrazin-Debatte aufzeigen konnten, welche seiner Pauschalurteile schlicht falsch waren. Dies hindert bis heute den Sarrazin allerdings nicht daran weiter die Mär zu verbreiten, "niemand hat mir einen Fehler nachgewiesen". Dies ist ebenso falsch wie dreist, und zeigt entweder wie weit er schon in einer Parallelwelt lebt, oder er denkt, nur mit diesem Mantra könne er noch mehr Bücher verkaufen, und sein Kartenhaus nicht ganz einstürzen lassen. Mich ärgert diese Lüge maßlos, und ich wünschte mir, ein Journalist/Moderator würde da mal ganz rigoros einschreiten!

Was sich jedoch wohl kaum ändert oder geändert hat, ist, dass leider in den diversen meinungsbildenden Talkshows nach wie vor echte Fachleute, Experten aus den Universitäten zu den jeweiligen Themen, so gut wie fast nie eingeladen werden.
So wird vielleicht der Unterhaltungfaktor durch Laiengäste erhöht, jedoch dem Bildungsauftrag nicht genügend gerecht.
Und Deutschland bleibt so dumm wie zuvor, gefangen in seinen Vorurteilen...



(Bildquelle: 3Sat) RVWFRQ4HT4M8

2 Kommentare:

  1. Wozu die Aufregung : Wenn 90% aller Libanesen in Deutschland von H4 leben, dann hat die Integration NICHT funktioniert. Vernünftig wäre eine bessere Einwanderungspolitik, wie z.B. in Kanada oder Australien. Mehr gibt es zu dem Thema nicht zu sagen.

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  2. Wenn die Libanesen nicht gut integriert sein sollten, dann sollte man dieses auch ansprechen, aber nicht auf alle anderen Gruppen pauschalisieren. Nicht alle muslimische Gruppen sind gleichermaßen schlecht integriert, so wenig wie alle dunkelhaarigen Menschen in Deutschland schlechtere Schulzeugnisse haben.
    Aber zu dieser differenzierten Sicht sind offensichtlich Sarrazin, Broder und Co. nicht in der Lage, denn dabei würde ja ihr "Feindbild Islam" nicht mehr als so schön einfaches Begründungsmuster funktionieren, sondern u .a. soziale Faktoren die ihnen zukommende Begründungsebene hinzugewinnen.

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