Freitag, 31. Dezember 2010

Sarrazin wird "unterdrückt"

Der migrationswissenschaftliche Laie Thilo Sarrazin verbreitet
ungehindert auf der Pressekonferenz
vor 600 Journalisten seine kruden und unbelegten Thesen
Im Politblogger-Blog ist kürzlich durch den User Robert ein schönes Resümee über die Heuchelei der Sarrazin-Debatte erschienen. Normalerweise verkneife ich es mir ja meistens, hier ausschließlich auf andere Beiträge, Postings, Artikel zu verweisen, wenn ich nicht selber etwas dazu schreibe.
Dieser Blogeintrag verdient es aber weiter publik gemacht zu werden, selbst wenn mir bewusst ist, dass wohl alle Leser hier sicherlich ebenfalls den Politblogger regelmäßig lesen.
Außerdem gebe ich danach doch noch ausführlicher meinen Kommentar dazu, selbst wenn ich ähnliches schon hier und anderswo geschrieben haben sollte, aber ein Missverständnis oder eine Mär über Sarrazins Buch hält sich bis heute, und das finde ich sehr ärgerlich...


Ehrlich gesagt kann ich das selbstmitleidige Gegreine, wie Thilo Sarrazin angeblich fertiggemacht wird und seine Meinung nicht sagen darf, nicht mehr ertragen.


Der Mann hat exklusive Vorabdrucke in BILD und SPIEGEL bekommen. BILD diktierte dem Volk schon vorab auf der Titelseite, was es davon zu halten habe (Der Klartextpolitiker). Sein Machwerk war schon vor dem offiziellen Erscheinungstermin zu kaufen und stand wochenlang auf Platz 1 der Verkaufscharts bei Amazon und SPIEGEL. Die ersten drei Auflagen waren jeweils schon am Erscheinungstag ausverkauft. Jetzt, nach nur vier Monaten, wird bereits die sechzehnte Auflage verscherbelt, 10000 Exemplare täglich, bei 1,25 Millionen verkauften Exemplaren insgesamt. Er durfte die Schwarte auf der Bundespressekonferenz vor über 600 Journalisten vorstellen. Er durfte seine Ansichten in zahlreichen Interviews und in nahezu jeder wichtigen Talkshow Deutschlands (Beckmann, Maischberger, Stuckrad-Barre, Jauch, Plasberg, …) vor einem Millionenpublikum ausbreiten. Von seiner anschließenden Lesetournee durch alle größeren deutschen Städte (bei der die zur Podiumsdiskussion geladenen Sarrazin-Kritiker vom anwesenden Publikum regelmäßig niedergepöbelt wurden) ganz zu schweigen.

Noch effektiver kann Meinung hierzulande wohl kaum noch unterdrückt werden.
(...)
Bitte hier weiter lesen Politblogger: Die ‘Verfolgung’ des Thilo Sarrazin

Auch Arne Hoffmann hat in seinem gutem Blog nochmals dieser Tage die Medien durchforstet und stellt uns seine Auswahl in diesem Beitrag vor: Im Zweifel weiterlügen, bis es kracht

Dabei fiel mir der Artikel von Sigmar Gabriel in der ZEIT wieder ein, der mir im Nachhinein noch lesenswerter erschien, als beim ersten Lesen vor einigen Monaten.

Robert hat oben genau das wiedergegeben, was ich schon zwei Wochen nach Erscheinen des Buches vom Hobby-Wissenschaftler Sarrazin gedacht habe (und in Foren geschrieben habe). Denn die Masche von ihm ist immer dieselbe.

Ich weiß noch, wie ich mit offenen Mund vor der TV-Sendung Plasberg (ARD) saß, als einer der Sarrazin'schen  Kronzeuginnen für seine Thesen, ohne die sein ganzes absurdes Gedankengebäude einstürzen würde, Prof. Stern ihm bescheinigte, dass er ihre Forschungsergebnisse missverstanden habe, dass er wohl keine Ahnung von dieser Forschungsrichtung habe, dass sie ihm entschieden widersprechen müsse, etc. und er dieses Faktum in der Sendung einfach ignorierte, und keinerlei Einsicht zeigte. Unglaublich! Peinlich! Welche Verblendung da schon sichtbar wurde. Ab da war klar, dass mit ihm rational nicht zu diskutieren sei, sowenig wie mit Kreationisten.

Was mich betrübt ist, dass viele fachfremde Journalisten/Politiker, Talkshowgäste, usw. sich wohl bemüßigt fühlten, sein Buch durchzulesen, nachdem Sarrazin dazu immer wieder aufgefordert hatte (was aber gar nicht nötig ist, denn die absurdesten Thesen wurden schon veröffentlicht und durch ihn selber in Zeitungs-Interviews, Vorträge, usw. verbreitet), aber offensichtlich nur ein kleinerer Teil dieser Leserschaft sich ebenfalls die Mühe machen wollte, mal die wirklichen wissenschaftlichen Fachbücher zur Kontrolle auch durchzulesen.

Denn dann müsste man viel mehr in den Talkshow-Aussagen, in den Zeitungsartikeln, usw. sagen und schreiben müssen, dass Sarrazin schlicht viel zu viele handwerkliche Fehler, ausgedachte (!) Statistiken, faktische und sachliche Fehler, falsche Zitate, falsche "Möchtegern-Experten", die in Wirklichkeit in der Wissenschaft völlig unrelevante fachliche Laien (!) sind, veraltete Statistiken, falsche Korrelationen (die es so in der Wissenschaft nie gab!), und so weiter, und so fort in seinem Buch macht oder gebraucht. 


Er verkündete vollmundig in der Pressekonferenz, sein Buch bestehe zu 80% aus Fakten, und er lade alle ein, doch bitte diese zu überprüfen, und beendete die Aufforderung mit seiner ihm eigenen Hybris, dass höchstwahrscheinlich niemand einen Fehler finden könne.



Dieser Bundesbanker zeigte schon da, dass er so viel von Intelligenzforschung, von Genetik, von Nationalismusforschung, von Ethnienforschung, von Integrations- und Migrationsforschung, von Demographie, von Islamwissenschaft, usw. versteht, wie Altkanzler Kohl von der Funktionsweise der Kabelbäume des A380! 

Denn in seinem Buch sind von den 80% Fakten, oberflächlich scheinbar sachlich nüchternen und neutralen Statistiken, Zitate von Experten und angeblichen Experten, etc. vielleicht 40-60% korrekt, aber die 20-40% Fakten, die schlicht und einfach sachlich falsch, oder missverstanden, oder unvollständig oder veraltet sind, das sind ausgerechnet diejenigen, die er benötigt, um seine kruden Thesen zu stützen.

Und diese 20-40% falschen Angaben seines Buches könnte, ja müsste eigentlich jeder Politiker, jeder Journalist, gegenprüfen! Das lernt man schon im Journalistenstudium in dem ersten Proseminar! "Woher weiß der das?" und "Stimmt das wirklich?" sind zwei der ersten Fragen, die man stellen muss.

Aber nein.
Ich habe den Eindruck, viel zu viele Journalisten, Politiker, Talkshowgäste, haben allein nur sein Buch gelesen. Und gelegentlich andere Zeitungsartikel. Mehr nicht!


Denn es ist immer wieder, auch von Helmut Schmidt (!) zu hören gewesen, hätte Sarrazin nur nicht die Genetik mit in sein Werk hinein genommen, es wäre dann doch ein hochseriöses "Sach"-Buch und ein wertvoller Beitrag zur Diskussion geworden. Mitnichten! 
Eine leider verbreitete Fehlannahme, auch bei der Mittelschicht oder dem sogenanntem Bildungsbürgertum, dass sowieso eine bedenkliche Entwicklung durchgemacht hat, wie kürzlich Jens Berger bei Telepolis beschrieb.
Diesen Trugschluss über das Buch kann man natürlich nicht erkennen, wenn man entweder nicht vom Fach ist, bzw. sich ncht seit Jahren wie selbstverständlich in den islamwissenschaftlichen, soziologischen, politologischen, genbiologischen, usw. Fachzeitschriften bewegt, oder zumindest sich nicht die Mühe der Gegenrecherche macht oder maßgebliche Standardliteratur zum Thema gelesen hat. So hält sich bis heute die Mär besonders in Talkshows, dass Buch sei eigentlich nicht schlecht, wäre da doch nur die Genetik außen vor geblieben. Nein, dass Buch hat so viele Fehler, so viele nachweisbare Falschaussagen und Fehlannahmen, falsche Analogieschlüsse, veraltete Statistiken, usw., dass man sich über den Dilettantismus eines großen Teils der Journaille und besonders vielen Talkshowgästen wie auch etlichen Politikern schon stark wundern muss, besonders in Zeiten des Internets.
Dabei stehen die meisten Statistiken im Netz für jedermann zum Gegencheck zur freien Verfügung! 


Ein brandaktuelles Beispiel, gerade vor wenigen Tagen aktualisiert findet sich beispielsweise hier (Stand: 23.12.2010):
Sarrazins Thesen auf dem Prüfstand - Ein empirischer Gegenentwurf zu Thilo Sarrazins Thesen zu Muslimen in Deutschland
Mehr findet sich in einem Dossier zur Sarrazin-Debatte 2010.

Und ich könnte noch locker acht weitere Universitäten und Forschungseinrichtungen mit gleichen Forschungsergebnissen, allein in Deutschland verlinken. Warum können dieses nicht mehr Journalisten, Politiker, Meinungsbildner finden, auswerten und den angeblichen "Fakten" des Sarrazin entgegenhalten?

Es kam mir so vor, als würde ein Teil der Journalisten/Politiker/Talkshowgäste ein Buch über Intelligent Design lesen, und sich dann daraufhin eine Meinung bilden, wie die Natur funktioniert, OHNE danach gleichfalls ein FACHbuch über Evolutionsbiologie zu lesen, um zu überprüfen, ob an den Thesen im ersten Buch überhaupt was dran ist, und welche Fakten dagegen und dafür sprechen.

Nein, diese Debatte zeigte vor allem eines:

Es ging primär gar nicht über die neutrale und nüchterne auf Wissenschaft gestützte objektive Aufklärung, zum Beispiel über durchaus vorhandene Probleme, ihre tatsächlichen Dimensionen, und vor allem ihre Hauptursachen und wie die Sachlage da draussen ausserhalb von Neuköln, usw. aussieht, und wie man die Lage verbessern kann. 



(Wie nur wenige Seiten erheblich mehr zur Integration beitragen können, und vor allem auch sachlich richtige Informationen zum Islam geben können, zeigte vor wenigen Monaten die Berliner Schrift: Islam und Schule - Eine Handreichung für Lehrerinnen und Lehrer an Berliner Schulen. Kurze und knackige Infos, einige kurze Hintergründe, und wie man potentielle Konflikte oder Problemen begegnen kann. Das hätten die Zeitungen mal abdrucken sollen, aber sie wollten ja doch eher teilweise Kasse machen...)
 

Nein.
Es ging um uns selber. Um Spiegelung unserer selbst. Um Unsicherheiten der Identifikation, um Projektionsflächen, um Echos aus dem 19. und der ersten Hälfte des 20. Jh., die immer noch wirkmächtig sind und in der Schule nicht korrigiert wurden (Stichwort: Veraltete Vorstellung von Kultur, als statische, denn dynamische Größe, siehe 2. Hälfte dieses Postings), um Ablenkungsmanöver und Sündenböcke, und um Karrieren: Bei Politikern, die sich einen Namen machen wollten, bei Talkshowgästen, die ihre Artikel/Bücher/Lesungen ertragreicher machen wollten, bei Journalisten, bzw. ihren Chefs, die durch boulevardesker höchst naiv oberflächlicher Aufbereitung des Themas Kasse machen wollten.



Jörg Lau von der "Zeit" sprach schon von einem "journalistischem De­saster!", als er seine Zunft auf ihre Schlamperei beim Umgang der Auswertung der "Pfeiffer"-Studie zur Jugendkriminalität auch unter Muslimen aufmerksam machte. Dann war der Sarrazin dieses Jahr der journalistische Super-GAU!
.
Jörg Lau meinte: "So darf es nicht weitergehen!"

Recht hat er, denn die Medien tragen eine große Mitschuld an jeglicher künftiger Entfesselung von latenter Gewalt und Hass durch brennende Gebäude und ich möchte hoffen, dass dann nicht infolgedessen die Redaktionen ebenfalls Opfer von Brandanschlägen werden.

Nachtrag:

Ich möchte noch abschließend auf einen Artikel des sehr guten Migrations-Blogs verweisen, der nochmals kurz aufzeigt, wie dreist Sarrazin am 25. Dezember in der FAZ gelogen hat:

Die Mutter aller Lügen. Sarrazin übertrifft sich selbst.

Sehr aufschlussreich für jedwede Diskussion sind auch diese Artikel, die Gegenargumente und Fakten den Sarrazin'schen Ergüssen gegenüberstellen:

Sarrazin Zitate 1: Zuwanderung





(Bildquelle: Wikimedia Commons)

1 Kommentar:

  1. Zur Info: Ich habe oben noch eine Ergänzung an das Ende des Postings geschrieben.

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