Freitag, 31. Dezember 2010

Wo Helmut Schmidt sich irrt - Huntington sowie: Islam und Demokratie vereinbar?

Zu Sylvester noch etwas Längeres für das Wochenende zu lesen:

Am 14.12. war Helmut Schmidt (links im Bild) zu Gast bei Sandra Maischberger.
Hier das Onlinevideo dieses Interviews, falls es jemand verpasste oder nochmals anschauen möchte.

Ich stimme normalerweise vielen Dingen die Helmut Schmidt üblicherweise so sagt zu, vor allem ist es oft eine Wohltat, dass er den Blick, unseren Blick auf die Welt oft gerne ausweitet, indem er eine dezidiert nicht eurozentrische Sicht aufzeigt. Besonders häufig beim Thema China zu beobachten, dass er da uns Deutschen gerne die nicht seltene Hybris vorzeigt und uns auf den Teppich holt. Jedoch bei einigen Sachgebieten merkt man, dass er entweder veraltete Vorstellungen mit sich herum trägt, oder kaum wissenschaftliche Werke zu bestimmten Weltgegenden liest, also kaum über die Lektüre von Zeitungsartikeln hinaus Wissen vervollständigt, und demnach angewiesen ist auf die vorhandene oder eben auch nicht vorhandene Expertise vieler Journalisten in Deutschland und daher zu einigen Fehlschlüssen kommen muss, wenn er kein Korrektiv bekommt.

Löblich ist, dass er sich vom diplomatischem Dienst aus den Botschaften diverser Länder Presseschauen der einheimischen Presse zukommen lässt, um mal von der eigenen Nabelschau wegkommt, was ihm oft ein großes Anliegen ist. So erhält er die Presseberichte z.B. aus Moskau, Warschau, Paris, Prag, Peking. Andere Städte hat er in dem Interview nicht ausgeführt, und ich vermute, dass er wahrscheinlich eher weniger Presseberichte aus Kairo, Ankara, Abu Dhabi, Teheran, Islamabad, etc. erhält.
Denn seine Aussagen lassen diese Vermutung doch stark zu.
Zumindest diejenigen, die ich in Interviews von ihm gehört habe, von Podiumsdiskussionen, von seinen Artikeln. Seine Bücher habe ich sämtlich nicht gelesen.

Ich kritisiere an Helmut Schmidt bezüglich seinem obigen Interviews dreierlei:

Wie wird Anatolien islamisch und türkisch? Teil 2

Divriği-Moschee, 13. Jh., Türkei, Weltkulturerbe

Ich hatte eben in einem Post zuvor die Grundlinien aufzeigen wollen, wie Anatolien vom 11. Jahrhundert an bis in die osmanische Zeit allmählich mehrheitlich islamisch und turkophon wurde:


Wie wird Anatolien islamisch und türkisch? Teil 1



Hier folgen nun noch zwei Leseproben aus zwei Standardwerken zur Osmanischen Geschichte, die die historische Entwicklung vor den Osmanen zwar auch umreissen, ansonsten den Schwerpunkt des Verhältnisses zwischen den Christen und Muslimen, auf die Byzantiner und Osmanen legen:

Wie wird Anatolien islamisch und türkisch? Teil 1

Osmanische Krieger, 14. Jh.,
ein künstlerischer Rekonstruktionsversuch
aus: Armies of the Ottoman Turks. 1300-1774. Men-at-Arms

Manche stellen sich vor, dass die türkischen Reiter"horden" um 1000 n. Chr. aus dem Osten kamen, die Byzantiner in einer Schlacht hinwegfegten, und mit dieser Schlacht auch gleich alle Einwohner Anatoliens ins Nichts verschwanden. Diese Vorstellung mag bei so manchem türkischen (Ultra-)Nationalisten verbreitet sein, der am liebsten seine direkten Ahnenreihe in einer Linie zum Altay-Gebirge in Zentralasien sehen würde.
Interessanterweise hat er diese Sichtweise gemeinsam mit rechtspopulistischen Islamfeinden, die am liebsten Muslime in besonders simpel gestrickten und blutrünstigen Bildern sehen mögen, um Nahrung für ihr Feindbild Islam zu erhalten.
Und ebenso sehen es nicht wenige griechische Migranten oder Griechen mit nationalistischer Gesinnung so, dass die heutigen Türken vor allem Fremde von Aussen seien, die griechisches Territorium unberechtigterweise an sich gerissen hätten (ohne jedoch zu fragen, wer denn vor der griechischen Invasion (eurozentristisch oft "Kolonisation" bezeichnet) in Anatolien lebte.).

Dabei sind in Wirklichkeit die Mehrzahl der heute in der Türkei lebenden Menschen Nachkommen der anatolischen (griechischsprachigen) Vorbevölkerung. Dieses scheint im öffentlichen Bewusstsein der obigen Gruppierungen nur schwer vermittelbar zu sein.

Darum hier mal einen Überblick, wie Anatolien im Laufe von Jahrhunderten mehrheitlich islamisiert und türkischsprachig wurde. Denn wer die Geschichte kennt, kann die Gegenwart besser verstehen:

Sarrazin wird "unterdrückt"

Der migrationswissenschaftliche Laie Thilo Sarrazin verbreitet
ungehindert auf der Pressekonferenz
vor 600 Journalisten seine kruden und unbelegten Thesen
Im Politblogger-Blog ist kürzlich durch den User Robert ein schönes Resümee über die Heuchelei der Sarrazin-Debatte erschienen. Normalerweise verkneife ich es mir ja meistens, hier ausschließlich auf andere Beiträge, Postings, Artikel zu verweisen, wenn ich nicht selber etwas dazu schreibe.
Dieser Blogeintrag verdient es aber weiter publik gemacht zu werden, selbst wenn mir bewusst ist, dass wohl alle Leser hier sicherlich ebenfalls den Politblogger regelmäßig lesen.
Außerdem gebe ich danach doch noch ausführlicher meinen Kommentar dazu, selbst wenn ich ähnliches schon hier und anderswo geschrieben haben sollte, aber ein Missverständnis oder eine Mär über Sarrazins Buch hält sich bis heute, und das finde ich sehr ärgerlich...

Mittwoch, 29. Dezember 2010

Hat der "islamische Antisemitsmus" eine lange Tradition in der Geschichte?

arabisches Buchcover von Henry Fords
"Der internationale Jude"
In Debatten hört man immer wieder, dass "der" Islam antisemitisch sei. Zweifellos gibt es im gesamten Nahen Osten seit Jahrzehnten eine Zunahme des Antisemitismus. Lässt sich diese Beobachtung aber auch in die Geschichte zurück projizieren, wie es bei vielen Debatten so gern getan wird? Dieser Frage möchte ich im Folgendem nachgehen - es geht also um Antisemitismus durch meistens arabische Muslime im Nahen Osten, sowie die historische Entwicklung und Einordnung.
Dieser Antisemitismus ist aber nicht nur bei Muslimen verbreitet, sondern auch bei arabischen Christen vor allem in Palästina aber auch anderswo verbreitet (vielleicht ein erster Hinweis darauf, ob religiöse Gründe, oder eher ethnische, nationale, territoriale Gründe vorliegen könnten). Ich persönlich kenne sogar einen, der als Halbstarker in der Intifada auch Steine schmiss, als Christ wohlgemerkt. Diese persönliche Erfahrung hat natürlich keinerlei Aussagekraft. Das nur nebenbei.

Hat also der "islamische Antisemitismus" eine lange "Tradition", oder ist dieses auch "arabischer Antisemitismus" genannte Phänomen nicht vielmehr ein rezentes Phänomen, vor allem auch ein importiertes Phänomen, durch Übernahme von Verschwörungstheorien, Topoi, Vorurteilen, Feindbildern, usw. die in unserem Kulturkreis besonders verbreitet sind und waren?

Ich habe mal in der Britannica Encyclopaedia of World Religions nachgeschlagen, es gibt keinerlei Behandlung eines Antisemitismus durch Muslime, ausser im Artikel Anti-Semitism. Dort steht ganz zum Schluss ein kleiner Absatz, dass sich der Antisemitismus im Nahen Osten nach Gründung von Israel ausgebreitet habe:

The immigration of large numbers of Jews to Palestine in the 20th century and the creation of the State of Israel (1948) aroused new currents of hostility within the Arab world that had previously tolerated the Jewish communities, resulting in the adoption of many anti-Jewish measures throughout the Muslim countries of the Middle East.
Ansonsten kommt Antisemitismus in der Enzyklopädie ausschließlich im christlichen Kontext in diversen Artikeln vor.

Und in der 15-Bändigen The Encyclopedia of Religion, Second Edition, 2005 steht im Artikel Anti-Semitism:

Präsident Wullf in der Türkei - Christen werden unterdrückt

St. Paulus Kirche in Tarsus, Türkei

Ein Posting, den ich noch unter Entwürfe gespeichert hatte möchte ich denn doch nicht vorenthalten, da das meiste, was ich darin kommentierte doch zeitlose Diskussionsthemen seit Jahren sind:
Präsident Christian Wulff hat bekanntlich die Türkei besucht und seine Rede vor dem Parlament gehalten. Mal sehen, ob bei Diskussionen hierzulande ebenso selektiv die Rede diskutiert wird, wie es bei der Rede zum Tag der Deutschen Einheit teilweise geschah. Vielleicht, weil einige bei seiner Rede eingeschlafen sind, und nicht mitbekommen haben, dass er mitnichten Integrationsprobleme verschwieg?
Man muss bei ihm leider immer aufpassen, dass man nicht einschläft, so auch bei seiner Rede vor dem türkischen Parlament. Ich habe dabei nichts spektakuläres wahrgenommen.

Ich habe damals teilweise Zeit gehabt in die Phoenix-Live-Berichterstattung im Fernsehen hinein zu schnuppern. Dort bewertete der Politikwissenschaftler Prof. Gerd Langguth die Situation in der Türkei, dessen Analysen zur deutschen Politik ich ansonsten durchaus manchmal schätze
Dies ging ein wenig nach hinten los. Denn leider hat er sich offenbar nicht ausführlich genug darauf vorbereitet, vielleicht nur wenige Artikel der Zeitungen Welt, Bild, Spiegel oder der Weltwoche gelesen. So zumindest hörte es sich an, besonders in seiner Analyse über die Christen in der Türkei, denn leider schlich sich alle drei vier Sätze ein Fehler ein. Entweder ein richtiger faktischer Fehler, z.b. weil er die aktuelleren Entwicklungen der Rechtsprechung nicht berücksichtigte und auf dem Stand vom Jahr 2002 war, oder eine Schlussfolgerung, die fehlerhaft war, weil sie wichtige weitere Fakten nicht einbezog. Dieses passiert aber öfters in der Berichterstattung der deutschen Medien über die christlichen Minderheiten in der Türkei.
Daher hier nun einige Anmerkungen:

Was ist eigentlich die Scharia?

Festbankett mit dem osmanischen Sultan Ahmed III.
und islamischen Geistlichen
aus dem Surname-ı Sultan Ahmed Han, osmanisch, ca. 1720
Es wird ja dieser Tage (und eigentlich seit dem 11. September dauernd) immer wieder von der Scharia gesprochen. Nun, ich habe manchmal den Eindruck, die meisten Diskutanten wissen meist gar nicht, wovon sie da eigentlich reden, oder welche Form der Scharia sie meinen. Meistens geben sie lediglich ein Bild von der Scharia wider, welches aber oft diffus bleibt anstatt es zu konkretisieren. Dies zeigt nur ihre Unkenntnis der Materie, wo sie glauben, mit Steinigung, mit Hand abhacken, Ehrenmord, usw. wäre schon "die Scharia" genügend charakterisiert.

Hier im Blog hatte ich schon einmal auf einen interessanten Artikel verwiesen, der die Wechselwirkungen des Westens mit dem islamischen Raum und unseren Einfluss mal aufzeigt, auch auf die Scharia:
Wieviel Westen steckt im modernen Islam?


Auf dieser Internetseite wird das definitorische Problem tangiert: