Montag, 20. Juni 2011

Islam Teil Europas?

Seit der Rede von Präsident Wulff letztes Jahr mit dem Satz "der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland" (siehe dazu auch meinen Blogbeitrag) wird in den Medien darüber gestritten, wie man den Einfluss des islamischen Kulturkreises auf Europa und damit auch auf Deutschland bewerten soll.

Nun gab es kürzlich wieder zwei Artikel von Wissenschaftlern plus einem Kenner des Nahen Ostens in den Medien, die sich dem Thema widmeten. Dabei ist es bezeichnend, dass in den sie begleitenden Stimmen nicht wenige gibt, die diese Artikel gar nicht richtig gelesen haben, sonst würden sie erkennen können, dass in den Artikeln durchaus (in unterschiedlichem Grade) differenziert die historischen Ausführungen gemacht wurden.

Ich gebe hier einige Passagen als Appetithappen wider, alle drei Artikel geben einen mehr oder minder kleinen historischen Überblick über die wechselseitigen Beziehungen von Islam und Europa. Wer näheres über dieses Thema wissen möchte, der schaue oben in den Reiter mit den Buchtipps, z.B. ist das Werk von Franco Cardini gut zu lesen und enthält meist neuere Forschungsergebnisse. 
Anmerkungen von mir wie üblich in eckigen Klammern.

Moschee-Kirche von Cordoba (Spanien),
eine der größten Sakralbauten der Erde

Aus der "Zeit", von Georg Bossong

Al-Andalus, goldener Traum

Im Sommer 711 begann die arabische Herrschaft in Spanien. Sie schuf eine Kultur, in der Muslime, Juden und Christen zueinander fanden.

[Nun könnte man anhand der Überschrift denken, der Autor würde einen durch die rosarote Brille geschönten Multikulturalismus predigen. Dem ist nicht so, er wendet sich gegen einen (von Europa und der islamischen Welt gleichermaßen gepflegten) romantischen Mythos der Toleranz in Andalusien, sondern differenziert durchaus. Dazu muss man aber auch den ganzen Artikel lesen. ;-)]

...Europas Grenzen sind ein willkürliches Konstrukt, über das man streiten kann. Wenn man sie aber als gegeben nimmt, lässt sich nicht leugnen, dass der Islam historisch auf unserem Kontinent vielerorts profund Wurzeln geschlagen hat: Bis heute ist er präsent in Russland (nicht nur im Kaukasus) und in Südosteuropa (nicht nur in Bosnien) – und er war sehr lange [fast 800 Jahre] präsent auf der Iberischen Halbinsel.

...Von da an bis zur endgültigen Rückeroberung im Jahre 1492 – und darüber hinaus noch bis zur Vertreibung der letzten verbliebenen zwangsgetauften Kryptomuslime im Jahre 1614 – war der Islam eine politisch, religiös, sozial und kulturell bestimmende Macht in diesem Teil Europas. Diese lange Periode, fast ein Jahrtausend, trägt den Namen al-Andalus. ...

Dieser Islam, die maurische Epoche (wie man sie auch nennt) in Hispanien, ist ein Teil der europäischen Geschichte. ...  Die Meerenge von Gibraltar, heute eine Demarkationslinie zwischen »Erster« und »Dritter Welt«, war eine Brücke, über die nicht nur Heere und Waren, sondern auch Gedanken und Künste ihren Weg fanden, Techniken und Handwerke, Wörter, Philosophien, Kleidermoden. ...

Al-Andalus wurde zum Objekt romantischer Verklärung. ... Bis heute hält sich der Mythos von einem maurischen Spanien, wo ein friedlicher Multikulturalismus herrschte, ungetrübt von Spannungen und Auseinandersetzungen. Dieser Mythos wird der Intoleranz und Aggressivität der katholischen Kirche entgegengesetzt, deren düsteres Wirken in der Errichtung der Inquisition zur Unterdrückung der verbliebenen Kryptomuslime gipfelte.

... Dabei ist dieser Mythos in sich so widersprüchlich wie viele Mythen; er steht für verschiedene, einander entgegengesetzte historische Ideale. Für das christliche Spanien war der Maure die allgegenwärtige Bedrohung, der Gegner, dem man sich zu stellen hatte, von dem aber auch eine geheime Faszination ausging. Die islamische Eroberung der Iberischen Halbinsel wurde zur existenziellen Katastrophe stilisiert, die eine »Rückeroberung« (reconquista) zur Pflicht machte – und bis heute wirkt dieser Kampf in nationalen spanischen Identitätsdebatten nach. Umgekehrt entwickelte sich al-Andalus für die aus Hispanien vertriebenen Muslime in der verklärenden Rückschau zu einem Paradies, dessen reale Wiederherstellung zwar heute – bei aller Symbolpolitik – niemand mehr ernsthaft anstreben kann und will, von dem man aber als historischem Ideal gerne träumt.
Jenseits solcher Spätfolgen der alten Gegensätze hat sich in neuerer Zeit die Vorstellung durchgesetzt, nach der das eigentliche Ideal von al-Andalus gerade in der Überwindung der Gegensätze liegt. Das spanische Mittelalter wird gesehen als ein friedliches Miteinander der monotheistischen Offenbarungsreligionen, als ein »Zusammenleben« (convivencia), wie es in dieser Form nirgendwo sonst realisiert worden ist. In der Tat lässt sich eine solche Deutung der Geschichte durch historische Fakten rechtfertigen, wenn auch mit Differenzierungen, die oftmals unter den Tisch gekehrt werden. Natürlich wäre es groteske Schönfärberei, die mittelalterliche Geschichte Spaniens als ein multikulturelles Paradies in immerwährendem Frieden zu interpretieren. Es gab viel Krieg und blutigen Streit. Aber es gab eben auch immer wieder Perioden, in denen es nicht nur kulturell, sondern auch politisch und militärisch zur Kooperation über die Religionsgrenzen hinweg kam.

Christliche Monarchen huldigten dem Kalifen von Córdoba, leisteten ihm Tributzahlungen und verheirateten ihre Töchter mit arabischen Prinzen. Die Überlegenheit des islamischen Spanien war im 10.Jahrhundert, dem Zeitalter des Kalifats von Córdoba, geradezu erdrückend, die Christen hatten ihm kaum etwas entgegenzusetzen. So arrangierte man sich lieber friedlich, als sich in aussichtslose Kriege zu stürzen.

Nach dem Zusammenbruch des Kalifats kam es im 11. Jahrhundert zur Herausbildung einer Vielzahl von »kleinen Königreichen« (taifas), die miteinander um Macht und Einfluss wetteiferten. In diesen permanenten Kleinkriegen scherte man sich wenig um Religionsgrenzen: Muslimische Fürsten riefen Christen gegen ihre muslimischen Gegner zu Hilfe, so wie umgekehrt auch christliche Könige mit Muslimen gegen ihre christlichen Nachbarn paktierten. ...

Bis Ende des 11. Jahrhunderts gab es in Hispanien ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das die Gegensätze überbrückte. Viele religiöse Feste wurden gemeinsam gefeiert, Ostern und Fastenbrechen vereinte Muslime und Christen. Man kann durchaus von einer gemeinsamen »Lebensbehausung« (morada vital) sprechen, welche die Religionsgrenzen überwand.
[Dieses damalige Verhalten der Menschen findet sich übrigens ein halbes Jahrtausend später auf dem Balkan in gleicher Weise wieder. Die Osmanen schoben etwa zum gleichem Zeitpunkt den islamischen Kulturraum in den Osten Europas hinein, wie das maurische Territorium im Westen schmolz.]

... Das Nebeneinander der Religionsgemeinschaften ist indessen mit Sieg und Niederlage allein nicht zu erfassen. In vielen Bereichen ließ sich das christliche Spanien von der überlegenen islamischen Kultur durchdringen und befruchten, gerade auch nachdem es militärisch den Sieg errungen hatte. Die kulturelle Symbiose von Orient und Okzident macht die einzigartige Leistung von al-Andalus aus. Für die europäische Geistesgeschichte ist diese Symbiose von großer Bedeutung. Mittler zwischen beiden Welten waren vielfach die Juden, deren Einfluss in Spanien bedeutender war als irgendwo sonst in Europa. Eine besondere Rolle spielte dabei die Philosophie.
Die islamische Zivilisation ist Erbin der griechischen Antike, nicht minder als das christliche Abendland.

...Von besonderer Bedeutung war die Übersetzung des arabisierten Aristoteles. Die Verbreitung des aristotelischen Rationalismus löste in Europa, insbesondere an der neu gegründeten Pariser Sorbonne, eine intellektuelle Revolution aus.
... Ibn Rushd [lat. Averroes] ist der wichtigste Aristoteliker des Mittelalters. Er hat zu allen Werken des griechischen Philosophen Kommentare verfasst, die in lateinischer Übersetzung im Abendland profunde Wirkungen auslösten. [zu dem Einfluss von Wissenschaft und Philosophie, besonders auch für die christliche Theologie, siehe letzten Link unten.]

... Ja, der Islam gehört zu Europa. Er ist Teil der ebenso semitisch wie griechisch geprägten Welt, in der wir bis heute leben. Dieses Wir umfasst das Abendland ebenso wie den Orient – die Kathedrale von Córdoba erinnert daran: eine Moschee, auf antiken Säulen ruhend, umgewandelt in ein christliches Gotteshaus. Nur im Bewusstsein dieser Einheit ist Dialog – und auf Dauer vielleicht sogar Frieden – möglich. Keine andere Epoche legt von diesem fernen Ziel besser und schöner Zeugnis ab als al-Andalus.

Von Michael Borgolte gab in den letztem Jahr mehrere Essays, einer davon wurde kürzlich wieder abgedruckt, ist jedoch älter und aus der Beilage der Zeitschrift "Das Parlament" und findet sich unter anderem auch auf der Bundeszentrale für politische Bildung wieder. Anders als obiger Georg Bossong ist Borgolte nicht islamwissenschaftlich geschult, noch hat er die damit einhergehende Sprachkompetenz. Kann also nicht in arabischen Archiven die Sicht "der Anderen" untersuchen. Ein oft zu beobachtendes Phänomen bei Stimmen zu diesem Thema in den (Massen-)Medien.
Borgolte macht trotz sprachlichen Defiziten hier einen schnellen und trotzdem recht fundierten Ritt durch die Geschichte des Islams in Europa.


Der Islam als Geburtshelfer Europas

Sieben Kriegsgefangene waren die ersten Muslime in Deutschland. Der König von Asturien hatte sie bei seinem Überfall auf Lissabon erbeutet und im Jahr 798 zusammen mit ihren Rüstungen und Maultieren als Freundschaftsgabe an Karl den Großen nach Aachen geschickt. Mit ihnen begann noch keine Geschichte des Islams in Deutschland, da sich die Spur der Zwangsmigranten gleich wieder verloren hat.

...Ein kultureller Ausgleich, eine Anpassung der Lebensverhältnisse oder gar eine gemeinsame Fortentwicklung der je eigenen Erfahrungen und Errungenschaften waren also Muslimen und Christen nur dort möglich, wo die Gläubigen des Korans die Herrschaft errungen und am besten auch bewahrt hatten. Hierin unterscheidet sich die muslimisch-christliche Symbiose grundlegend vom Zusammenleben der Juden mit Christen oder Muslimen, weil Juden überall in der Minderheit und politisch abhängig waren. Militärische Eroberungen durch orientalische Verbände richteten sich in Europa gegen christianisierte Reiche, Regionen und Bevölkerungen. Gewalt und Unterwerfungen, die teilweise als Fremdherrschaft empfunden und nach Jahrhunderten wieder beseitigt wurden, bildeten die Voraussetzungen für kulturelle Austauschprozesse, von denen Europa bis heute zehrt.

Expansion in Richtung Europa

... Auch der zum Mythos gewordene Sieg des Franken Karl Martell bei Tours und Poitiers im Jahr 732 über die Sarazenen (muslimische Stämme im Mittelmeerraum) war in diesem Sinne keine Entscheidungsschlacht gewesen. Umgekehrt hatte es selbst ein Herrscher wie Karl der Große nicht vermocht, gegen die Muslime auf der Iberischen Halbinsel bedeutende Landgewinne zu erzielen.
[Gut, fass er mal den Blick nach Osten wendet, denn dort wird eher selten der Blick beim Thema Islam in Europa gewendet.]
... Etwas anders als im Westen und Süden Europas war es im Osten. An der Wolga nahmen die Bulgaren den Islam an (921/922) und bildeten ein Reich, das wegen seiner handelspolitischen Lage von Bedeutung war. Seine Ausstrahlung in die Nachbarschaft langte aber nicht aus zur Konversion der dort lebenden „heidnischen“ Rus, die sich stattdessen für das Christentum orthodoxer Prägung entschieden haben.

... Nach der Eroberung Jerusalems 1244 durch muslimische Mächte brachte der Sultan der Mamluken aus Ägypten den Mongolen an der „Goliathsquelle“ (zwischen Jerusalem und Nablus) eine entscheidende Niederlage bei; der Khan der „Goldenen Horde“, dem der größte Teil der Rus folgte, konvertierte bald darauf ebenso zum Islam (1257/66) wie das Ilchanat, die andere mongolische Herrschaft in Vorderasien (1295/1304). Der Einflussbereich der Muslime wurde bis über den Dnjepr hinaus vorgeschoben.
... Am Ende des Mittelalters liefen christlich-muslimische Siedlungsgrenzen immer noch durch Europa, wenn auch an anderen Orten als zuvor.

Europa entdeckt sich selbst

... Den Muslimen hingegen war es gelungen, mit ihren frühen Eroberungen in der Levante die Wasserstraßen zwischen Mittelmeer und Indischem Ozean und teilweise auch den Zugang zu den asiatischen Seidenstraßen unter ihre Kontrolle zu bringen. Nicht nur für den Handel zwischen Okzident und Orient, sondern vor allem für den Kulturtransfer aus Persien, Indien und China besetzten sie im Mittelalter die Schlüsselposition. ...

Einfluss des Islams

In Wissenschaft und Publizistik wird heute viel darüber gestritten, wo die Anfänge Europas zu suchen sind. Viele finden sie in der Antike und besonders bei der Freiheit und Demokratie der Griechen, andere aber erst im Mittelalter. Für diese Auffassung spricht die Verlagerung des historischen Kraftfeldes vom Saum des Mittelmeeres nach Norden, zu welcher der Islam mit seiner dynamischen Expansion entscheidend beigetragen hat. Über die Kontinentalisierung Europas geht aber die Funktion der Muslime als Geburtshelfer unseres Lebensraumes weit hinaus. Denn der Islam hat gerade von seiner vermeintlichen Randposition her die Geschichte Europas tiefgreifend beeinflusst. Entscheidend dafür waren die arabischen Eroberungen des 7. und 8. Jahrhunderts gewesen. Mit dem „islamischen Reich“ war eine riesige Zone für die Verbreitung von Gütern, Ideen und Techniken entstanden, die von China und Indien bis nach England reichte. Die Begegnung von Völkern, Kulturen und Religionen, nicht zuletzt des Islams mit Christentum und Judentum, haben Innovationen und Erfindungen von höchst nachhaltiger Wirkung angeregt.

[Es folgen einige Beispiele von Pflanzen, die aus dem Nahen Osten kamen oder übermittelt wurden]
... Im muslimischen Spanien setzte sich die syrische Irrigation so erfolgreich durch, dass man geradezu von einer „Schöpfradrevolution“ spricht. Die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität verschaffte Handel und Städtewesen Aufschwung und Wohlstand. Kein Wunder, dass bald auch die Christen die neue Technik übernahmen und nach Verdrängung der Muslime beibehielten.

... Für die Papierherstellung blieben die Christen auf die muslimischen Experten angewiesen. In Italien etablierten sich eher im Norden Zentren der Herstellung und des Exports von Papier (Genua, Bologna), während Papiermühlen jenseits der Alpen erst später bezeugt sind (1338 im französischen Troyes, 1390 in Nürnberg, 1494 im englischen Stevenage). ...

Entfaltung einer freien Wissenschaft und Philosophie

[Einige wissenschaftliche Errungenschaften der Araber, griechisch-persisch-indisches Erbe, usw. werden in diesem Abschnitt erläutert.]

... Von besonders großer praktischer Bedeutung war ein drittes Werk mit astronomischen Tafeln, das die Berechnung der Himmelskörper erlaubt. Es beruhte auf einer Urschrift in Sanskrit, doch berücksichtigte der Gelehrte von Bagdad auch griechische und persische Überlieferungen. Schon in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts benutzten und bearbeiteten arabische Mathematiker am Kalifenhof von Córdoba al-Khwarizmis Tafelwerk, das in dieser Form auch in Spanien von lateinischen Gelehrten übersetzt wurde.

... Wiederum ging die Aneignung der antiken Texte mit der Abfassung eigener Traktate einher.

Ruhm der arabischen Wissenschaften

...Zur gleichen Zeit hatten die von Arabern übersetzten, kommentierten und selbstständig fortentwickelten Lehren griechischer und fernöstlicher Gelehrsamkeit das Interesse der westeuropäischen Gelehrten geweckt. Im muslimischen Spanien und im normannischen beziehungsweise staufischen Unteritalien traten die Herrscher und Fürsten als Patrone der Wissenschaft in Erscheinung. In Andalusien bildeten die Muslime auch Schulen aus, die sich auf bestimmte Fächer oder Gebiete konzentrierten. So war Sevilla im 12. Jahrhundert ein Schwerpunkt für aristotelische Philosophie. Im Allgemeinen betätigten sich die Gelehrten aber als Philosophen, Theologen, Naturwissenschaftler und sogar Poeten zugleich. Unerfüllter Erkenntnistrieb machte sie auch mobil, so dass sie „aus Liebe zur Wissenschaft“ in den Orient reisten und dabei bis zum mongolischen Observatorium in Aserbaidschan vorstießen.

Der Ruhm der arabischen Wissenschaften in Spanien verbreitete sich andererseits bis nach England. Einer, der „nach seinem Vermögen die Studien der Araber durchdringen“ wollte und dabei vor allem an Astronomie-Astrologie und an Mathematik dachte, war Adelard aus Bath. Er hatte an Schulen in der Normandie und an der Loire seine Ausbildung in den Sieben Freien Künsten ( studia liberalia ) erfahren und war dann weitergezogen, über die französischen Bildungszentren Tours und Laon nach Salerno und Sizilien sowie bis nach Antiochien in Syrien. Adelard übersetzte 1126 die astronomischen Tafeln des al-Khwarizmi und übertrug erstmals die „Elemente“ des Euklid (eine Zusammenfassung der bis etwa 280 v.u.Z. entstandenen Arithmetik und Geometrie) vollständig vom Arabischen ins Lateinische. Daneben verfasste er auch eigene Abhandlungen, die zum Beispiel den mathematisch-astronomischen Geräten Abakus und Astrolab gewidmet waren.

Wie Adelard suchten auch andere weitgereiste Männer das christliche Spanien auf, um die Schätze Griechenlands, Indiens, Persiens und des Islams ins Lateinische zu übertragen. So wenig über den Lebensweg der Wissbegierigen bekannt ist, lässt sich erkennen, dass sie aus vielen Ländern des westlichen Europas kamen, darunter wohl auch aus dem römisch-deutschen Reich. In Toledo, Barcelona und verschiedenen Orten des Ebrotales bildeten sich Zentren der Übersetzungstätigkeit aus, an denen sich Muslime und Juden den christlichen Gelehrten zur Verfügung stellten.

Manchmal formulierte ein Christ den lateinischen Text zwar direkt nach der arabischen Vorlage, meist aber bildete er ein Team mit Anderen. ... Der Prozess der Aneignung arabischer Literatur durch die Lateiner vollzog sich freilich nicht bloß durch Übersetzung, sondern wie bei den Arabern in Bezug auf die Griechen auch durch Zusammenfassung, Ergänzung und selbstständige Fortentwicklung der vorgelegten Texte.

Ähnlich wie im muslimischen Spanien war auch in Sizilien unter christlichen Herren die Wissenschaft höfisch bestimmt. König Roger II. ließ beispielsweise den arabischen Geographen al-Idrisi nach jahrzehntelangen Forschungen und ausgedehnten Exkursionen eine aufwändige Weltkarte erstellen. ...

... Christliche Pilger nach Santiago de Compostela oder nach Rom und sonstige Reisende verbreiteten den Ruhm der neuen Wissenschaft und die Kenntnis der latinisierten Schriften der Griechen und Araber im ganzen Westen. Besonders in den französischen Kathedralschulen, die ihrerseits Studierende auch aus Deutschland anzogen, blühte die Gelehrsamkeit auf. In Chartres beispielsweise konnten die lateinischen Dichter und Schriftsteller der Antike ebenso studiert werden wie die griechisch-römischen Philosophen und Naturwissenschaftler. Nicht zuletzt erregten aber die muslimischen Autoren selbst Aufmerksamkeit, denn die Araber galten als „die Philosophen“ schlechthin. Avicenna, dessen eigentlicher Name Ibn Sina war, Arzt, Physiker, Philosoph, Jurist, Mathematiker, Astronom und Alchemist aus Persien, stand als Autorität neben Aristoteles. Indem sie den Lateinern eine völlig neue Grundlage der Wissenschaft zugänglich machten, wurden die Araber im hohen Mittelalter zum zweiten Mal zu Geburtshelfern Europas.
[Die Araber haben vor allem das heute als (natur-)wissenschaftliches Arbeiten genannte Verfahren dem Westen vermittelt, also nicht wie die Griechen naturphilosophische Betrachtungen oder Überlegungen zum Erkenntnisgewinn anzustellen, sondern Beobachtung, konkrete Experimente, Verifizierung, also Empirie zum Erkenntnisgewinn zu nutzen. Dieses verdanken wir dem arabischen Kulturkreis.]

Beginnende Entzweiung

... Sultan Mehmed II. beanspruchte als Eroberer von Konstantinopel (1453) das Erbe der römischen Imperatoren und fühlte sich als Rächer der Trojaner an den Griechen. Sein Volk nämlich, die Türken (Teukrer), hielt man seit dem frühen Mittelalter für Abkömmlinge jener von Homer besungenen Helden, welche die Achaier einst an der Küste Kleinasiens besiegt haben sollen. Als Nachkommen des Aeneas und anderer Überlebender und Flüchtlinge galten aber auch die Römer selbst sowie fast alle Völker Europas, darunter die Franzosen, Engländer und Deutschen. Mehmeds Wunsch, sich dieser europäischen Völkerfamilie zuzugesellen, ja an deren Spitze zu treten, wiesen freilich gelehrte Lateiner sofort zurück. ... Der deutsche Reformator Martin Luther erkannte in „dem Türken“ den „Erzfeind Christi“ und rief seinen Gott um Hilfe an: „Beweis dein Macht, Herr Jhesu Christ, der du Herr aller Herren bist, beschirm dein arme Christenheit, dass sie dich lob in Ewigkeit.“



Es wurde jüngst eine kleine aber feine Ausstellung in London eröffnet. Ausgelöst wurde die Ausstellung durch eine aufgefundene Kiste mit bislang unbeachteten mittelalterlichen Manuskripten in arabischer und anderen Sprachen. Es zeigt sich in den letzten Jahren, dass je mehr man die Wissensströme von der Antike bis in die Neuzeit untersucht, desto mehr bewahrheitet sich der Spruch, dass jede Wissenschaftlergeneration Zwergen auf den Schultern von Riesen sind. Das geht los mit den Griechen, die Zwerge auf den Schultern der orientalischen Kulturen waren, mit den Arabern, die Zwerge auf den Schultern der antiken Mittelmeerkulturen und der süd- und ostasiatischen Kulturen waren, bis hin zu dem christlichen Europa, die Zwerge auf den Schultern des islamischen Kulturraums und der klassischen Antike waren. Der Eintrag des islamischen Erbes wird bis heute oft negiert, aber die immer mehr zutage tretenden Schriftstücke zeigen deutlich, dass bislang dieses Erbe des Wissenstransfers meist eher unter- als übertrieben wurde.



Arabick Roots

Starts: on 09 June 2011
Finishes: 11 November 2011
Venue: The Royal Society, London

The ‘Arabick’ roots of knowledge were significant at the founding period of the Royal Society. English philosophers showed continued appreciation for the classical science of the Arabic and Islamic worlds and interest in its living knowledge; they used both as sources for their research.

This exhibition highlights the ways in which early Fellows of the Royal Society, such as Edmond Halley and Robert Boyle, used the work of Arabic and Islamic scholars as a basis for their research. Many of the items on display are drawn from the library and archives of the Royal Society, and have not previously been on public display.

The early Fellows of the Royal Society were keenly aware of the rich scholarly tradition of the Arab and Muslim world. They took every opportunity to read and discuss the works of the Arab and Persian astronomers, physicians and mathematicians and they valued the knowledge shared by ambassadors from Morocco and the kingdom of Tripoli.

This exhibition explores the Arabick roots of knowledge, which were significant at the founding period of the Royal Society. We use the 17th century spelling of the word 'Arabic' that was often used to refer to languages that uses the Arabic type such as Arabic and Persian.

Dazu Ausschnitte einer Rezension der Ausstellung mit vielen Beispielen des Einflusses arabischer Gelehrsamkeit auf britische Gelehrte von Ray Moseley, al-arabiya London:

Arabick Roots. ‘Arabick’? Ask the Royal Society.

In the 17th century, an intellectual ferment began sweeping through scientific circles in England that drew scholars to the treasures of knowledge accumulated in the Muslim world since the Middle Ages.

Spurred by the development of diplomatic and trade ties between England and the Ottoman Empire, scholars in London and other centers of learning in England began to explore these building blocks of knowledge in science, art, literature and other fields that had been created while Europe slept through the backwardness of the Middle Ages.

Tradesmen brought back scores of thousands of Arabic, Persian and Ottoman manuscripts, and English scholars fanned out across the Middle East to find other sources of knowledge and to immerse themselves in Oriental languages so they could read and translate the materials they acquired.

Long before that, the European Renaissance had drawn inspiration and impetus from Europe’s discovery of the achievements of the Islamic world during the Middle Ages. That is well documented, of course, but the story of what began in England in the 17th and early 18th centuries has until now remained largely hidden.

... It owes its existence primarily to research work of Dr. Rim Turkmani, a Syrian-born astrophysicist at Imperial College London. Four years ago, she attended a roundtable discussion at the Royal Society, the oldest academy of science in the world, at which there was mention of Arabic books in the archive of the Society.
“I was intrigued,” she said. “What were those books doing here?”


The Royal Society, she found, had a collection of long-forgotten, uncatalogued books stored in an old cupboard in its archives. It turned out that some were in Arabic but others in Persian and Ottoman, even one in Chinese. ... The Society also had a large collection of books translated from Arabic into Latin.

... The exhibition is a relatively small but highly illuminating collection of ancient books, letters, scientific instruments and artefacts that tell the story of exchanges occurring between England and the Middle East five centuries ago.

... The famed English astronomer Edmond Halley, who gave his name to Halley’s comet, used Arabic observations of the sky and learned Arabic at age 50 so he could translate two books from that language into Latin.
[Soso, wer wusste schon, dass noch Wissenschaftler des 17. Jahrhunderts wie Halley arabisch lernten, und wozu arabisch lernen?]

Other Royal Society scholars realized that Latin medieval translations of Arabic had corrupted much of the knowledge transferred from the Arab world during the Renaissance, so they also learned Arabic to produce more accurate translations.

Robert Boyle, one of England’s most famous 17th century chemists, was first motivated to study Arabic and Syriac because of their biblical significance. Later he became more interested in the natural philosophy expounded in these languages.

...The exhibit includes a reproduction of a 1634 letter by King Charles I to the Levant Company, asking merchants to send home an Arabic manuscript on every ship returning from the Levant.
Alexander Russell and his brother Patrick were Scottish physicians who traveled to Aleppo in the 18th century, and Patrick wrote to his brother, describing Arabic inoculation of children against smallpox with a needle. This more or less coincided with a smallpox epidemic in London, where scientists knew little about the disease and were somewhat fearful of the immunization practice long common in the Muslim world, in which healthy people were given a mild dose of virus from an infected person.

The Royal Society turned to the writings of the Persian physician Abu Bakr Muhammad ibn Zakariya al-Razi to learn about the treatment of the disease.

... The Arabick Roots exhibit is free and open to the public from 9 a.m. to 5 p.m., Mondays through Fridays. Visits are restricted to guided tours and must be booked by telephone (44207-4512597) or on the Royal Society website (royalsociety.org). But during the Society’s Summer Science Exhibition, July 5 through 10, anyone may visit without prebooking.

(Ray Moseley is a London-based former chief European correspondent of the Chicago Tribune and has worked extensively in the Middle East.)

Eine weitere Vorstellung der Ausstellung findet sich auf der Seite Muslimheritage.

UPDATE: Es gibt doch tatsächlich einen kleinen PDF-Ausstellungskatalog zur freien Verfügung auf der Muslimheritage-Seite!
Bitte schön.
In einem Kommentar unten, mache ich zudem noch einen Eintrag damit Leser auf dieses Update aufmerksam gemacht werden.


Folgender Autor vertritt zudem die These, die ich im Blog auch schon einmal vorstellte:

Frieder Otto Wolf::
Ohne die islamische Philosophie hätte es weder Scholastik noch Aufklärung geben können! Philosophiehistorische Anhaltspunkte für eine europäische Haltung zum Islam


Der Islam ist nichts der europäischen intellektuellen Tradition Äußerliches, sondern er gehört selbst wesentlich zu unserem westeuropäischen Kulturerbe - und zwar in zweierlei Hinsicht:

  1. Zum einen als eine der Religionen aus der „abrahamitischen Tradition“, Judentum, Christentum, Islam, die sich alle - obwohl sie es jeweils mehr oder minder heftig bestreiten - in den letzten 1000 Jahren in Auseinandersetzung und Abgrenzung miteinander entwickelt haben, also historisch konkret jeweils ohne die beiden anderen nicht das wären, was sie heute geworden sind. (...)
  2. Zum anderen aber auch als die zweite - nach dem byzantinischen Reichschristentum und vor der katholischen Christenheit - ausgearbeitete ideologische Artikulation von weltimmanenter späthellenistischer Philosophie und Wissenschaft, polisgesellschaftlicher und imperialer institutioneller Rechtstradition und transzendenter Offenbarungsregion, die für die „Geburt Europas“ (vgl. Bartlett 1996) als Vorbild, Folie und Denkmaterial gedient hat.
- Der Islam in seiner Geschichte - die innerhalb der islamischen Tradition selbst allerdings nur  unzureichend in Erinnerung geblieben ist - enthält eine entscheidende Phase intellektueller Umbauarbeiten und Kritiken im Verhältnis von Philosophie und Religion, von Vernunftglauben und Glaubensobservanz, ohne die es schwerfiele, das überhaupt zu denken, was immer wieder als der eigentliche Kernbestand europäischer Identität behauptet wird: die Renaissance, die Reformation und die Aufklärung. Dabei spielt aus westeuropäischer Sicht die Nichtexistenz einer die Gemeinde der Gläubigen hierarchisch erfassenden Kirche eine maßgebliche Rolle, wie sie vor allem vom katholischen Modell der „Christenheit“ entwickelt worden ist (zur Komplexität von deren Durchsetzungsprozeß vgl. Herrin 1987 u. Bartlett 1996). Deswegen ist der geringe Stand des heute auf beiden Seiten - bei MuslimInnen und Nicht-MuslimInnen - vorhandenen historischen Bewußtseins über die gemeinsamen Traditionslinien in Religion und Philosophie, die sie sowohl verbinden als auch unterscheiden, ein kulturpolitisch dringend zu behebende Selbstaufklärungslücke.


Wer es noch genauer wissen möchte, kann sich neben oben empfohlener Literatur auch mal diese kostenlosen PDFs anschauen:



Wissenschaft und Technik im Islam

Band I.
Institut für Geschichte der Arabisch-Islamischen Wissenschaften
an der Johann Wolfgang Goethe-Universität
Frankfurt am Main


Veröffentlichungen des
Institutes für Geschichte der
Arabisch-Islamischen Wissenschaften
Herausgegeben von Fuat Sezgin, 2003



weitere Bände siehe hier.

Das Frankfurter Institut für Geschichte der Arabisch-Islamischen Wissenschaften erreicht man hier.


(Bildquelle: Wikimedia Commons)

1 Kommentar:

  1. Ich habe oben noch den frei zugänglichen Ausstellungskatalog eingefügt.

    Ausstellungskatalog

    Und was lese ich da vom Direktor der Royal Society Centre for History of Science? Denselben Gedanken, den ich oben schon formulierte, das mit den Zwergen und Gigangen, siehe:

    "No scientist works alone, and no scientist works without understanding and appreciating
    the work of those who have gone before. This was just as true at the beginning of English
    science in the seventeenth and eighteenth centuries as it is today. As Isaac Newton
    famously wrote, ‘If I have seen further, it is by standing on the shoulders of giants’.

    This exhibition uncovers some of Newton’s ‘giants’. The early Fellows of the Royal Society
    were keenly aware of the rich scholarly tradition of the Arab and Muslim world. They took
    every opportunity to read and discuss the works of the Arab and Persian astronomers,
    physicians and mathematicians ..."

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