Freitag, 5. August 2011

Einflüsse auf die türkischen Küchen

Die Olivenbaumprodukte fanden besonders über die Byzantiner Eingang
 in die türkische Küche. Hier ein Baum an der türkischen Ägäisküste in
der Nähe von Burhaniye.

Heute stelle ich anhand einer Leseprobe einmal dar, welchen Einflüssen die türkischen Küchen bei der Völkerwanderung der Turkvölker von Zentralasien nach Anatolien ausgesetzt waren. Aus all diesen Einflüssen, inklusive der vorgefundenen Küchen Anatoliens, schufen dann spätere Reiche, besonders das Osmanische Reich, eine Synthese, dabei auch viel Neues, sowie Verfeinerungen bestehender Gerichte. Besonders in der osmanischen Palastküche des Topkapı Sarayı war das Beste gerade gut genug. Die besten Köche, die besten Spezialisten, die besten Zutaten aus der ganzen Welt. Bis zu 1000 Köche produzierten dabei bis zu 6000 Gerichte - täglich! Sogar Eis wurde wurde mühsam über hunderte Kilometer vom Uludağ, dem antiken bithynischen Olymp bei Bursa, nach Istanbul für erlesene Speisen transportiert.

Einen Einblick gibt eine Aufstellung der eingekauften Speisen:
Aus der Zeit Mehmets II. (reg. 1451-1481) existieren Verzeichnisse des großherrlichen Palastes, aus denen der Bedarf an Lebensmitteln hervorgeht: So ließ der Küchenmeister im Topkapi im 8. Monat des Jahres 878 (i.J. 1473) folgende Lebensmittel kaufen: 3600 kg Honig, 544 Hühner, 28 Maß Reis, 61 Gänse, 24 kg Safran, 116 Muscheln, 87 Krabben, 400 Fische, 56 g Moschus, 12,8 kg Paprikapulver, 14 kg Olivenöl, 104 kg rumänisches Salz, 17 kg Stärkemehl, 616 Stücke Schafskopf- und Klauen, 180 Mägen und 649 Eier. Die Palastküchen ersonnen raffinierte Rezepte. Luxuriöse Gerichte waren mit Pfeffer, rotem Paprika, Zimt, Nelken, Safran, Anis, Kreuzkümmel, Sesam, Pfefferminze oder Rosenwasser gewürzt.
Aus: Türkenbeute Ausstellung

Dabei muss angemerkt werden, dass zu der Zeit Sultans Mehmet II. der Topkapı-Palast  erst gerade gebaut wurde, er später noch stark umgebaut und erweitert wurde, und auch die Anzahl der Bewohner zunahm, und damit auch die Liste der benötigten Nahrungsmittel später erheblich größer wurde. Siehe weiter unten die Zahlen für spätere Jahrhunderte.

Goldstein, Joyce [Mitarb.], Johnson, Peter [Mitarb.], Ehrhardt, Cornell [Übers.]: Rund um das Mittelmeer. Eine kulinarische Reise; mit 235 Originalrezepten aus Marokko, Algerien, Tunesien, Ägypten, Israel, Libanon, Syrien, Türkei, Griechenland, Zypern, Italien, Spanien, Korsika und der Provence. München Christian Verlag 1995. S. 149:


Gegen Mitte des elften Jahrhunderts stieß eine Armee bis zur anatolischen Mittelmeerküste vor und nahm die Stadt Antalya im Namen ihres Herrschers Süleyman des Seldschuken ein. Die Eroberung von Antalya, heute für blühende Orangenhaine und als Zentrum der aufstrebenden türkischen Touristikindustrie bekannt, wird üblicherweise nicht zu den Wendepunkten in der türkischen Geschichte gezählt und hat sicherlich nicht den gleichen Stellenwert wie die Schlacht von Mantzikert im Jahr 1071, die das Schicksal der byzantinischen Herrschaft in weiten Teilen Anatoliens besiegelte, oder die Eroberung Konstantinopels im Jahr 1453, die den Aufstieg der Osmanen als Machthaber konsolidierte. Die Erwähnung dieses Ereignisses mag jedoch daran erinnern, daß die Türken seit mehr als neun Jahrhunderten ein Mittelmeervolk sind und seither maßgeblich das Geschick der Region sowohl in kultureller wie auch in militärischer und politischer Hinsicht mitbestimmt haben.
Diese herausragende Stellung der Türken schlug sich auch in der Kochkunst nieder; als letzte der großen kulinarischen Traditionen, die sich am Mittelmeer herausbildeten, zählt die türkische Küche gleichzeitig auch zu den gehaltvollsten und einflußreichsten. Die Türken sollten noch weiter nach Westen vordringen - um genau zu sein, bis vor die Tore Wiens. Ihren Vorstoß zur Mittelmeerküste kann man aber dennoch als den Höhepunkt einer Völkerwanderung betrachten, die an der chinesischen Grenze in der Weite Zentralasiens begonnen hatte. Und auch dieser Umstand hat sich in der Kochkunst niedergeschlagen, denn es gibt Elemente in der türkischen Küche, die sich an den verschiedensten Stationen dieser langen Reise durch Asien entwickelt haben oder übernommen wurden.




Die früheste Periode der türkischen Geschichte hat nur wenige kulinarische Spuren hinterlassen. Mantı, eine Art Ravioli, die noch heute gegessen werden, haben die Uiguren, der erste nachweislich seßhafte türkische Volksstamm, zweifellos von ihren chinesischen Nachbarn übernommen, denn das Wort leitet sich aus dem Chinesischen ab, und das Gericht erinnert stark an wan-tan (chinesische Teigtaschen). Die kulinarische Lust am Füllen von Nudeln, aber auch an Innereien und Gemüsen, ist in der türkischen Küche allerdings derart verbreitet, daß es sich dabei um ein ursprüngliches Element der Tradition handeln muß und nicht um etwas, das passiv von den Chinesen übernommen wurde.
Die türkische Küche ist die einzige mediterrane Kochkultur, die deutlich erkennbare ostasiatische Vorläufer aufweist. Durch die zunehmende Eingliederung in die islamische Welt, die im zehnten Jahrhundert einsetzte, wurde die Türkei allerdings verhältnismäßig früh dem kulturellen Einflußbereich Ostasiens und damit auch dessen Küche entzogen. Ihre Einführung in die klassische Kultur des Islams verdanken die Türken den Persern. Persische Historiker nationalistischer Ausrichtung führen daher auch stets an, daß die nachfolgenden türkischen Völker, von denen die persischsprechenden Länder beherrscht wurden, als jene weiter nach Westen vordrangen, fraglos den höher entwickelten kulturellen Vorbildern folgten, die sie vorfanden. Diese Bewertung bedarf jedoch einer Modifizierung, insbesondere auf kulinarischem Gebiet.
Eines der frühesten schriftlichen Zeugnisse der türkischislamischen Kultur, ein türkisch-arabisches Wörterbuch aus dem elften Jahrhundert, zeigt deutlich, daß die türkische Küche auch vor dem Kontakt mit den Persern nicht einer Tabula rasa glich. Es führt beispielsweise zahlreiche Begriffe auf, die sich auf Brot und seine Zubereitung beziehen und von denen viele noch heute in abgewandelter Form in der türkischen Sprache zu finden sind; diese Begriffe verweisen auf die Existenz einer reichen, originär türkischen Backtradition, die später praktisch von selbst mit der mediterranen Brotkultur verschmolz. Die gleiche Quelle zeigt auch, daß die frühen Türken Milcherzeugnisse liebten, darunter Joghurt und dessen Nebenprodukte sowie verschiedene Arten von Käse. Joghurt ist im Vorderen Orient seit der Antike bekannt, doch haben die Türken zweifellos eine wesentliche Rolle bei seiner Verbreitung gespielt - sowohl im Mittelmeerraum wie auch in anderen Ländern.
Kaiser Franz I., der an einer Darmerkrankung litt, wurde durch eine Joghurt-Diät kuriert, die ihm ein Höfling verordnete, der einige Zeit in der Türkei verbracht hatte; diese Begebenheit ist der erste Beleg für den Verzehr von Joghurt im Europa der frühen Neuzeit. Und das Wort »Joghurt«, das von allen europäischen Sprachen übernommen wurde, ist türkischen Ursprungs. Ferner finden wir in unserem Wörterbuch spezielle Gerichte erwähnt, wie etwa tutmaç und börek. Er-steres, eine Art Eintopf aus Linsen und Nudeln, ist heute praktisch unbekannt, obwohl es jahrhundertelang überaus beliebt war und in einigen Regionen Anatoliens noch im 19. Jahrhundert gegessen wurde. Was börek anbelangt, so läßt sich nicht mit Bestimmtheit sagen, ob sie mit den einflußreichen und bekannten Speisen identisch waren, die wir heute unter dieser Bezeichnung kennen; der Kompilator des Wörterbuches war schließlich ein Lexikograph und kein Koch.
Die persische Küche war in der Tat hoch entwickelt, und sie hatte bereits, zwei Jahrhunderte bevor die Türken dem Machtbereich des Islam angehörten, einen prägenden Einfluß bei der Entstehung der arabischen Küche ausgeübt. Die Türken wußten die persische Kost durchaus zu schätzen. Sie liebten die gleichen Eintopfgerichte mit Fleisch und Früchten, die die Araber in Marokko und Spanien einführten, und von dieser Art von Gerichten haben einige bis heute in der Türkei überlebt, wenn auch nur als archaische und regionale Spezialitäten. Gemüseeintöpfe namens yakhni wurden ebenfalls von der persischen in die türkische Küche übernommen.
Aber die Perser scheinen mindestens ebensoviel von den Türken übernommen zu haben. Kebab, der Sammelbegriff für alle Arten von gegrilltem Fleisch, ist persisch, aber unser Wörterbuch aus dem elften Jahrhundert beweist, daß die Türken seit frühester Zeit mit der Kunst des Grillens vertraut waren. Überdies war - und ist - die Auswahl an kebab-Gerichten, die die Türken kreierten, weitaus größer als die der Perser. Ähnliches gilt auch für pilav, gegarten Reis oder ein Gericht, das auf gegartem Reis basiert. Die Bezeichnung selbst ist die tür-kisierte Version des persischen Wortes pulau, und Reis wurde, wenn auch nur in kleinen Mengen, in Persien verwendet, bevor die Türken kamen, denen Reis in ihrer ursprünglichen Heimat unbekannt war; und von Persien aus fand Reis durch die Araber im gesamten Mittelmeerraum Verbreitung. Aber die Entstehung der Pilaw-Gerichte in all ihrer Vielfalt verlief parallel zum Aufstieg der Türken in der islamischen Welt, und selbst in Persien wurden viele Reisgerichte unter türkischen Namen bekannt. Pilaw hielt man überall für typisch türkisch.
Und so hatte es durchaus seinen Grund, daß Norman Douglas einmal die eher rhetorische Frage stellte: »Gibt es etwas Besseres als einen authentischen türkischen Pilaw?«
Eine Reihe rein türkischer Gerichte erfreute sich bei den Persern ebenfalls großer Beliebtheit. Tutmag wurde von einem persischen Dichter des 13. Jahrhunderts als »der Kalif der kulinarischen Welt« gepriesen, und bugra, vermutlich der Vorläufer einiger heutiger börek-Arten, nahm in Persien die gleiche herausragende Stellung ein wie später Pilaw. Die weite Verbreitung von Gerichten, die mit Mehl, Teig bzw. Nudeln zubereitet werden, läßt sich vermutlich ebenfalls auf den Einfluß der Türken zurückführen.
Vor diesem Hintergrund scheint es angebracht zu sein, von einer gemeinsamen türkisch-persischen Küche zu sprechen, bei deren Entstehung keine der beiden Parteien eine dominante Rolle einnahm. Es war diese gemischte Küche, die die Türken mit nach Anatolien brachten; die Seldschuken, die einen Großteil Anatoliens einnahmen und beherrschten, waren schließlich aus einer Dynastie hervorgegangen, deren Herrschaft über weite Teile des Vorderen Orients in Persien ihren Anfang genommen hatte. Die seldschukische Küche läßt sich anhand der Speisenfolge für ein königliches Bankett beurteilen, das 1237 in Konya stattfand: eine Auswahl von Kebabs, darunter gebratene Ente und Huhn am Spieß; mit Pfeffer gewürzter Pilaw; eine Reihe von gebratenen und geschmorten Gemüsegerichten und als Nachspeise zerde, ein mit Safran aromatisierter Reisauflauf aus Persien. Einzelheiten über die Kost im seldschukischen Anatolien findet man überraschenderweise auch in den Werken des persischen Dichters und Mystikers Dschalaluddin Rumi. Rumi, dessen Schriften häufig bis zur Unkenntlichkeit sentimental verbrämt sind, zeigte ein lebhaftes Interesse an kulinarischen Dingen, und er schildert liebevoll und plastisch ein ganzes Spektrum an Speisen, das von Gemüsen, Hülsenfrüchten, Obst und Broten bis hin zu Pasteten, Milchprodukten und sauer eingelegten Speisen reicht.
Die Umgestaltung Anatoliens in ein türkisches Stammland war kein kurzer, klar umrissener, interner Vorgang. Zahlreiche Griechen wurden nach und nach islamisiert und in die türkische Gesellschaft integriert. Viele andere, die ihren christlichen Glauben beibehielten, wurden enge Nachbarn der Türken, eine Situation, die in Westanatolien bis zum Austausch der Bevölkerung andauerte, der 1923 zwischen der Türkei und Griechenland vorgenommen wurde. Für den Austausch kulinarischer Einflüsse gab es zu jener Zeit viele Kanäle und Gelegenheiten.
Im Kapitel über Griechenland haben wir bereits gesehen, daß die Türken in dieser Beziehung die einflußreichere Partei waren. Griechische Beiträge kann man jedoch in mindestens drei Bereichen deutlich erkennen. Ein halbes Dutzend Lehnwörter, die sich auf die Zubereitung von Broten beziehen - von denen heute allerdings keines mehr eine wesentliche Rolle spielt -, lassen auf einen griechischen Einfluß bei den Backwaren schließen; die allmähliche Verdrängung der langen flachen Fladenbrote, die noch heute in Persien und Zentralasien beliebt sind, durch runde Brotlaibe geht vermutlich ebenfalls auf griechische Vorbilder zurück. Als zweites wäre die große Zahl von Fisch- und Meerestierbezeichnungen griechischen Ursprungs anzuführen, was trotz der Tatsache, daß sich die Türken rasch zu tüchtigen Seeleuten entwickelten
und schon bald über eine der schlagkräftigsten Flotten im Mittelmeer verfügten, darauf hindeutet, daß es die Griechen waren, die ihnen die eßbaren Schätze des Mittelmeeres schmackhaft machten. Als drittes ist festzustellen, daß die Verwendung von Olivenöl, seit der Antike ein Merkmal der griechischen Küche, für die Türken offensichtlich eine Novität darstellte, auch wenn einige türkische Verwendungsarten von Olivenöl, etwa für kalte Gemüsegerichte, keine griechischen Vorbilder zu haben scheinen.
Für die endgültige Ausprägung der türkischen Küche waren diese speziellen Beiträge jedoch weniger bedeutsam als die allgemeine Verfügbarkeit neuer Zutaten aus dem gesamten Osmanischen Reich und die wichtigen Impulse, die die Küche durch die Entwicklung einer imperialen Kultur erhielt. Die osmanische Hauptstadt, Konstantinopel (das heutige Istanbul), spielte in beiden Beziehungen eine entscheidende Rolle. Vom 15. bis 19. Jahrhundert hätte man mit Fug und Recht behaupten können, daß alle Wege - und auch viele Schiffsrouten - nach Istanbul führten; die geographische und die politische Lage machten die Stadt zu einem riesigen Warenlager für die vielfältigen Produkte des Osmanischen Reichs, das sich von der Walachei im Norden bis zum Jemen im Süden erstreckte, sowie für viele Erzeugnisse, die aus fremden Ländern importiert wurden. Ein europäischer Bewunderer der Stadt beschrieb dies mit den Worten: »Es scheint, als existierten die Dardanellen und der Bosporus eigens zu dem Zweck, Schätze aus allen Teilen der Welt nach Istanbul zu schaffen.«
Der Mısır Çarşısı, ein Gewürzmarkt, der Mitte des 17. Jahrhunderts entstand, vermittelt einen Eindruck vom alten Glanz der Istanbuler Märkte; er ist noch heute vom Wohlgeruch der Gewürze, Kräuter, Fleischwaren und Käse erfüllt, die in den dunklen Gewölben feilgeboten werden. Verschwunden sind dagegen die Traditionen, die einst zum Nahrungshandel im osmanischen Istanbul gehörten. Bäcker und Metzger, Pastetenbäcker, Käse- und Joghurthändler - alle waren in Gilden organisiert, die ihre besonderen Bräuche und Einführungsriten hatten und unter der symbolischen Schutzherrschaft eines der Propheten oder eines Gefährten des Propheten Mohammed standen. Mit ihren Festwagen, die von Ochsen gezogen wurden und auf denen sie ihre Waren präsentierten, nahmen sie an den städtischen Festumzügen teil, die dem Ruhm der osmanischen Zivilisation in ebenso beeindruckender Weise Tribut zollten wie jede Militärparade.
Die Rolle der Paläste bei der Entstehung einer hochent-' wickelten Kochkultur ist im Falle der Osmanen besonders gut dokumentiert. Als perfekte Bürokraten fertigten sie sogar Berichte über bestimmte Mahlzeiten der Sultane an, zu denen auch der von Sultan Mehmed II. im Jahr der Eroberung Konstantinopels (1453) zählt. Und es gibt auch Aufzeichnungen über die riesigen Mengen an Nahrungsmitteln, mit denen man die kaiserlichen Küchen belieferte. So wurden 1661 unter anderem 36000 Scheffel Reis konsumiert, und 1723 verbrauchte der Hof 60 000 Hammel, zusammen mit einer Fülle anderer Fleischarten. Die Verarbeitung all dieser Nahrungsmittel oblag einem Küchenstab, der Tausende von Arbeitskräften umfaßte und streng nach Funktion und Dienstalter organisiert war. Diese komplizierte Hierarchie diente nicht allein der Verköstigung des Sultans und seiner Familie. Der Topkapi-Palast, Wohnsitz der Sultane, war gleichzeitig das Regierungszentrum, eine Stadt im Miniaturformat, wo bis zu zehntausend Menschen arbeiteten und täglich verköstigt werden mußten. Darüber hinaus wurden verschiedene weltliche und religiöse Würdenträger, die außerhalb der Palastmauern lebten, als Zeichen der Gunst regelmäßig vom Hof mit Speisen beliefert. Somit gab es also wenigstens zwei Kanäle, auf denen die Palastküche mit der Außenwelt kommunizierte. Auch wenn nur wenige Menschen in der Lage waren, die Palastküche zu kopieren, zeigen doch viele autobiographische Schriften, daß bis zum Ende des Osmanischen Reichs zumindest die Wohlha-
benden, die in ihren Villen am Bosporus residierten, im wesentlichen die gleichen Speisen aßen wie die Palastbewohner.
Trotz all der verschiedenen Völker und Religionen, die die Pax Ottomanica zusammenhielt, waren osmanische Kultur und Gesellschaft weitgehend islamisch geprägt; es liegt daher nahe, daß die Eßgewohnheiten mit den religiösen Traditionen des Islam verwoben waren. Die Beziehung zwischen Ernährung und Religion kam paradoxerweise im Fastenmonat Ramadan besonders deutlich zum Ausdruck. Sowohl die Mahlzeit vor Sonnenaufgang, mit der jeder Fastentag begann (sahur), wie auch die Mahlzeit nach Sonnenuntergang, die ihn beendete (iftar), waren gehaltvoll und reichhaltig und gewannen durch die dazwischenliegenden Stunden des Fastens an Bedeutung. Zur Vorbereitung auf den Ramadan gehörte zweifellos die innere Einkehr und das Bereuen der Sünden des abgelaufenen Jahres, aber fast ebenso wichtig war es, die Vorratskammer aufzufüllen. Das zweite bedeutende Fest des Islam, das Opferfest, beendet die jährliche Pilgerfahrt nach Mekka. Wie anderenorts schlachten die türkischen Muslime ein Tier (gewöhnlich ein Schaf), und das Fleisch wird in festgelegten Portionen an Verwandte, Nachbarn und Arme verteilt. Zu diesem Anlaß werden auch besondere Nachspeisen zubereitet und gegessen.
Eine besondere Stellung in der traditionellen türkischen Form des Islam nehmen die tarikats ein, die gewöhnlich als mystische Orden bezeichnet werden, aber in Wirklichkeit erheblich weitreichendere Funktionen hatten, als eine solche Beschreibung denken läßt. Die Zubereitung von Speisen beinhaltete rituelle Aspekte in einigen dieser Orden, speziell jedoch beim Mewlewije-Orden, der von Dschalaluddin Rumi in Konya gegründet wurde und dessen Mitglieder gemeinhin als »tanzende Derwische« bekannt sind, und beim Bektaschi-Orden. In beiden Orden, aber auch in weiten Teilen der türkischen Gesellschaft, wird am zehnten Tag des Muharram (des ersten Monats im islamischen Kalender) eine spezielle kalte süße Suppe gegessen, die aşure heißt.
Die Osmanen hatten eine Kultur und eine Zivilisation sowie eine Großmacht geschaffen, und es war unvermeidlich, daß mit dem Ende des Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg vieles zusammenbrach oder verschwand. Dies wird auf dem kulinarischen Sektor ebenso deutlich wie auf anderen Gebieten. Weitreichende kulturelle und gesellschaftliche Veränderungen haben auch den Kontext der Kochkultur verändert, und die Auswahl an Gerichten, die im allgemeinen gekocht werden, ist kleiner geworden. Dennoch gehört die türkische Küche noch immer zu den herausragenden Traditionen des Mittelmeerraums; die Palette an Aromen und Speisen, die sie bietet - Suppen, Hülsenfrüchte, Kebabs, Fisch, Pilaws, Gemüsegerichte, Pasteten, Milchdesserts, sauer eingelegte Speisen -, ist vermutlich einzigartig. Die kulinarischen Anleihen der Nachbarländer sind noch heute offensichtlich, auch wenn dies häufig ignoriert oder abgestritten wird. Vor allem aber sind die Zubereitung von Speisen und die Mahlzeiten im Kreise der Familie und mit Freunden ein wichtiger Ausdruck und eine Stütze des sozialen Zusammenhalts geblieben. Und allein schon dieser Aspekt berechtigt zu der Aussage, daß die Kochkultur eines der wesentlichen Elemente darstellt, die die moderne Türkei mit ihrer reichen und komplexen Vergangenheit verbinden.

(Bildquelle: Wikimedia CommonsOllios)

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