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Sayyid Qutb, 1906 - 1966, einer
der geistigen Väter des Islamismus |
Seit dem arabischen Frühling, erst recht nach den ersten Wahlen in Tunesien und Marokko und den Umfrageergebnissen in Libyen und Ägypten, sind die Islamisten in aller Munde. Dabei geht es in der Presse so wild durcheinander, wie in dem deutschen Wikipedia-Artikel. Mal werden diese muslimischen Gruppierungen als gemäßigt islamistisch, mal als konservativ-islamisch, oder einfach als islamistisch bezeichnet, es finden sich alle Bezeichnungen für ein und dieselbe Gruppe, oft sogar in der gleichen Zeitung unterschiedlich. Mal wird auf die Vergangenheit dieser politischen Parteien verwiesen, mal auf deren eigene Aussagen, um eine passende Schublade in Medienartikeln zu finden. So sieht sich zum Beispiel die tunesische
Nahda-Bewegung unter Führung von
Rachid al-Ghannouchi, als eine Art tunesische
AKP nach Vorbild der erfolgreichen türkischen konservativ-islamischen Partei.
Gleichzeitig suggeriert die Bezeichnung "islamistisch" eine Schublade, in die auch die Terrororganisation Al-Qaida sowie die Taliban-Diktatur gesteckt werden, und beim unbedarften Leser den Eindruck verstärken (den er beim Begriff "Islam" sowieso schon durch mediale Dauerberieselung antrainiert bekommen hat), dass es sich hierbei um ein und dasselbe handelt, dass Tunesien, Ägypten, etc. kurz vor einem "Gottesstaat" iranischer oder afghanischer Prägung stünden.
Gleiches Phänomen lässt sich beim Aufsteigen von Horrorbildern vor dem geistigen Auge westlicher Leser beim Begriff "
Scharia" feststellen, deren Bedeutung viele zu kennen glauben, doch letztlich die meisten eher nur rudimentäre Kenntnisse, und daher Zerrbilder des Begriffs "Scharia" haben.
Nun verwahren sich einige hiesige Muslime gegen den Begriff "Islamisten" für die nordafrikanischen vorwiegend muslimisch ausgerichteten Parteien. Sie meinen mitunter, es wären letztlich die gleichen Parteien, wie etwa auch die deutsche Christlich-Soziale Union (CSU). Wahrscheinlich ist diese Gleichschaltung ebenso verkürzt und oberflächlich, wie andererseits alle muslimischen nahöstlichen Parteien unter dem Stichwort Islamisten abzulegen.
Denn eines scheint klar: Bei der Definition von Islamismus gibt es trotz Gemeinsamkeiten ebenso viele Unterströmungen, Ausrichtungen, Wandlungen, wie es auch beim Begriff Islam solche gibt. Der Islamismus ist kein homogener, unveränderlicher Block, sondern wandelbar und kann durchaus Reformpotential für die eigenen Gesellschaften enthalten. Auch ist die Abgrenzung vom Islamismus zum "Mainstream-Islam" nicht immer einfach, da die Linien fließend verlaufen. Außerdem gibt es in jeder Religion Fundamentalismus, und man sollte nicht mit dem Finger auf andere zeigen, wenn man in der eigenen Gesellschaft gerade dabei ist, starke (z. B. christliche) fundamentalistische Strömungen nahezu ungehindert aufkommen zu lassen.
Allgemein ist der heutige weltweit anzutreffende Fundamentalismus eine Antwort auf die Moderne und fand sich zuerst in den Regionen, wo die Moderne als erstes tief in die Gesellschaften eindrang, also im Westen, namentlich in den USA.
Da der Wikipedia-Artikel recht konfus ist, zudem eine deutliche Schieflage aufweist, schaue ich heute mal in meine Sekundärliteratur und zitiere einige Passagen. Auch die ansonsten ergiebige
Bundeszentrale für politische Bildung ist in dieser Thematik auf den ersten Blick ein wenig in Schieflage geraten. Damit meine ich, dass wohl unter dem Einfluss der CDU-Regierung in den letzten Jahren zahlreiche Texte ausgetauscht wurden, zugunsten einer Dramatisierung, einer Einseitigkeit, einer Fokussierung auf sicherheitspolitische Aspekte, und damit dem Pfad des wissenschaftlichen Konsens ein wenig verlassend. Dieser war noch vor einigen Jahren deutlicher erkennbar, es wurde mehr als heute differenziert, auch wenn nach wie vor einige gute (verbliebene?) Wissenschaftler als Autoren einiger Dossiers Verantwortung tragen.
Diese Artikelserie Islamismus ist quasi eine Fortsetzung meiner
Artikelserie über die Wahhabiten, eine der zahlreichen Ausprägungen von Islamisten.