Freitag, 30. Dezember 2011

Der Völkermord an den Armeniern, Frankreich, die Türkei und das Osmanische Reich

Karte der armenischen Deportationen 1915

Nun ist es also passiert, pünktlich vor dem Wahlkampf: Die französische Nationalversammlung hat dem Gesetzentwurf zugestimmt, mit dem die Leugnung des armenischen Völkermordes seitens des Osmanischen Reiches künftig unter Strafe gestellt wird.
Diese Gelegenheit möchte ich hiermit nutzen, mal meinen Standpunkt darzulegen. Mitunter möchte man hier als unbedarfter Leser beim Durchklicken meiner Artikel meinen, ich wäre ein Revisonist, ein Beschöniger osmanischer und islamischer Geschichte, und so weiter. Dieser Eindruck könnte in der Tat dann entstehen, wenn jemand in dem Geschichtsbild über den Orient aus der Mitte des 20. Jahrhunderts verharrt. Inzwischen haben sich jedoch Erkenntnisse, auch die Methodik der Geschichtswissenschaft, der Osmanistik, Islamwissenschaft, Turkologie, etc. weiterentwickelt und mitunter stark vermehrt. Dabei sind alte Gewissheiten ins Wanken geraten, manchmal revidiert worden, es fanden gar Paradigmenwechsel statt. Mein Fokus des Blogs liegt darin, auf diese neueren Erkenntnisse hinzuweisen, alte Zerrbilder zu aktualisieren. Meistens ist es eben so, dass inzwischen das Osmanische Reich eben doch nicht mehr sooo böse, barbarisch, blutrünstig, unzivilisiert dargestellt wird, wie es noch vor wenigen Dekaden gängig war. Daher wirkt der neuere Forschungsstand bei mir oft beschönigend, doch wer regelmäßig hier liest, stellt auch fest, dass ich versuche nicht einseitig zu sein, indem ich beispielsweise Massaker, Gräuel, Fehlentwicklungen nicht ausklammere. So schilderte ich beispielsweise nicht nur die im Westen grassierende Islamfeindlichkeit oder Islamophobie, sondern machte auch auf die im Nahen Osten teilweise bestehenden Zerrbilder über den Westen aufmerksam. Oder zeigte negative Aspekte in der islamischen Welt, wie zum Beispiel die wahhabitische "Kulturrevolution" in Saudi-Arabien.

So nehme ich auch bezügliches des Völkermordes der jungtürkisch-osmanischen Regierung an den Armeniern hier mal Stellung. Wichtig dabei ist, dass es vor allem um die Frage geht, wollte die osmanische Regierung die ost- und westanatolischen Armenier (aber nicht die Istanbuler Armenier) durch das Mittel der Deportation auslöschen, also gezielt töten, oder nahmen sie deren Todesrate auf dem Marsch der Deportation nur billigend in Kauf, da sie mitten im 1. Weltkrieg einen Mehrfrontenkrieg führten und keine Ressourcen, und auch keine Organisation zustande brachten, um eine "humanere" Zwangsumsiedlung zu bewerkstelligen?

Es geht also um die Frage: Absichtlicher vorsätzlicher Völkermord oder unabsichtlicher Völkermord.

Zumindest für viele Historiker und für mich auch. Denn schaut man sich mal die Definition der Vereinten Nationen an, was unter Völkermord fällt, dann sollte jedem Leser sofort auffallen, dass hier der Straftatbestand des Völkermordes an den Armeniern erfüllt wurde, unabhängig, ob durch die Begleitumstände, oder durch Absicht - schlicht durch den Deportationsbefehl:

Als wegen Völkermord zu Bestrafender gilt,

„[w]er in der Absicht, eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihr Volkstum bestimmte Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören, vorsätzlich
  1. Mitglieder der Gruppe tötet,
  2. Mitgliedern der Gruppe schwere körperliche oder seelische Schäden […] zufügt,
  3. die Gruppe unter Lebensbedingungen stellt, die geeignet sind, deren körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen,
  4. Maßregeln verhängt, die Geburtenraten innerhalb der Gruppe verhindern sollen,
  5. Kinder der Gruppe in eine andere Gruppe gewaltsam überführt“.

Denn auch die meisten "Völkermordleugner" leugnen ja nicht die Deportation der Armenier, samt vielen ihrer tragischen Begleitumstände. Insofern müssten sie sich eigentlich Gruppe der "Vorsätzlicher Völkermordleugner" nennen.

Ich interessierte mich vor Jahren für das Thema, als ich feststellte, dass in zahlreichen Standardwerken zur osmanischen oder türkischen Geschichte, überwiegend von westlichen Autoren, dieser Völkermord recht selten mal als dieser bezeichnet wurde. Es wurde sowieso recht wenig auf die genauen Umstände eingegangen. Meist wurden nur einige Fakten aufgeführt, ansonsten die Bewertung umgangen, oder juristische Aussagen, also Tötungsabsicht mittels Deportation, ja oder nein. Dabei wusste ich aus hiesigen Massenmedien, dass allgemein von einem Völkermord ausgegangen wird. Das gezielt die Armenier "in die Wüste" geschickt worden seien, damit sie dort verrecken sollten. Wieso dieser Widerspruch? Wieso erhalten diese Standardwerke der Orientalistik hervorragende Rezensionen, warum stehen sie in allen Uni-Bibliotheken, in den Seminaren, gelten als Pflichtlektüre für jeden Studenten? Und wieso wird sogar in der altehrwürdigen Enzyklopädie Brockhaus von 2007 nicht von Völkermord, sondern "nur" von Deportationen gesprochen? Wer nun in Frankreich den Brockhaus zitiert, muss ins Gefängnis oder Strafe zahlen? Ich halte das französische Gesetz für absurd.
Aufgrund obigen widersprüchlichen Beispiele machte ich mich mal an die Suche nach Antworten, versuchte der Sache auf den Grund zu gehen, und stellte bald schnell fest, dass es doch recht wenige Historiker weltweit sind, die sich mit diesem Thema wirklich intensiv beschäftigen. Und wenn es nur wenige Spezialisten sind, die den Völkermord erforschen, ist die Manipulierbarkeit natürlich viel höher, die Instrumentalisierung der Geschichte, als wären es mehrere Dutzend Historiker. Immerhin sind immense Sprachkenntnisse erst einmal Voraussetzung, überhaupt etwas zu erforschen, neben den westlichen Sprachen, um die diplomatische Korrespondenz lesen und vergleichen zu können, muss man noch Osmanisch (in einer völlig anderen Schrift, teilweise auch Schriften, denn Osmanisch wurde in diversen Schreibstilen geschrieben, die nicht immer einfach zu lesen sind), dazu noch modernes Türkisch (mit lateinischen Buchstaben) und idealerweise auch armenisch lesen können. Da kommt leicht ein Dutzend Sprachen zusammen, was für jeden Gelehrten eine echte Herausforderung darstellt, und die geringe Zahl an Historikern (oder auch unprofessionellen Historikern) erklären hilft. Was die Sache weiterhin schwierig macht, sind einerseits politische Implikationen, so ist nicht von der Hand zu weisen, dass einige westliche Völkermordzweifler seitens der türkischen Regierung finanziert werden oder wurden. Das muss allerdings noch nicht bedeuten, dass ihre Forschung weniger seriös ist, als die "armenische Seite", die ja teilweise ebenfalls finanzielle Begünstigungen seitens von Armeniern erhalten - ohne, dass dieses im Westen einen Aufschrei der Empörung hervorruft. Ich bin der Meinung, es kommt nicht in erster Linie darauf an, wer welche Forschung bezahlt, auch wenn wir die vielen Negativbeispiele z.B. aus der Tabakindustrie kennen, wo Forscher sich instrumentalisieren ließen und gelinde gesagt unsaubere Ergebnisse lieferten, nein es kommt in erster Linie auf die Forschungsergebnisse selbst drauf an, auf ihre Verifizierbarkeit. Sind die Erschließungen der Quellen seriös, lassen sich die Schlussfolgerungen, die Interpretationen gut begründen, ja oder nein.
Andererseits besteht eine weitere Schwierigkeit für historische Laien darin, dass es einige Widersprüche in dieser Völkermordfrage gibt. Oft hört man den Satz, es seien nicht alle Armenier massakriert worden, und das wäre so, als hätte Adolf Hitler den Holocaust befohlen, dabei aber Köln, Frankfurt, Stuttgart und Hamburg dabei vergessen. Oder es wird darauf verwiesen, dass Offiziere durch die osmanische Regierung durchaus für ihre Taten bei den Deportationen bestraft wurden, gehängt wurden.
Es gab und gibt übrigens nicht nur dieses oben verlinkte Historiker-Symposium in Istanbul, sondern es gab durchaus schon öfters Konferenzen zu diesem Thema, hier eines 2005 in der Schweiz.  Dort vertraten (fast) alle, auch Türken, die Auffassung, es handele sich um einen gezielten Völkermord. Weil manchmal in Diskussionen so getan wird, wir bräuchten nur eine "unabhängige" Historikerkommission, die endlich einmal die Archive sichten müsse, um Klarheit in die Sache zu bringen, also aus der Sicht der Zweifler und Leugner (da mache ich schon Unterschiede zwischen Skeptikern, und dezidierten Leugnern), dann endlich zu beweisen, es war kein geplanter Massenmord, sondern die Umstände waren es. Dabei wird oft verkannt, es gab und gibt schon lange internationale Historiker-Kongresse speziell zum Thema, oder im Rahmen eines Oberthemas.

Nun, ich möchte hier gar nicht weiter mit genaueren Pro- und Kontra-Argumenten langweilen. Wer sich dafür interessiert, wer sich für einen Teil meiner Recherchen, viele weitere Links und Zitate für meinen Meinungsbildungsprozess interessiert, kann es hier tun. Sehr schön erkennt man im Verlauf der Diskussion auch mein Schwanken von diversen Positionen die ich einnehme, meine Unsicherheit in der Bewertung des Gelesenen, wobei ich immer eher auf Seiten der Völkermord-These war, diese aber nicht nur nachplappern wollte, sondern verstehen wollte. Ebenso wollte ich die Gegenargumente verstehen, und vergleichen, obwohl ich dadurch recht starken Gegenwind bekam, weil viele Diskutanten es sich zu einfach machen, und jegliche Zweifel gleichsetzen mit Nazi-Holocaust-Leugnern. Ich habe es mir jedenfalls nicht leicht gemacht, und in recht kurzer Zeit intensiv recht viele Texte aller Parteien durchgelesen.

Das Fazit meiner Recherchen ist letztlich, dass man nicht darauf vertrauen sollte, was in den Massenmedien dauernd kolportiert wird, zum Beispiel, dass es hunderte Historiker gibt, die zweifelsfrei durch Quellenstudien bewiesen hätten, dass der Völkermord zwecks Deportation so geplant gewesen sei. Es also vergleichbar sei, wie bei der Erforschung des Holocaust. Nein, es sind nur wenige Dutzend sehr spezialisierte Historiker oder Privatpersonen, die sich in diesem hochpolitisiertem Minenfeld tummeln. Keinesfalls vergleichbar mit der Holocaust-Forschung.
Also muss man sich die renommiertesten (und vielleicht "neutralsten") dieser Gelehrten für sich heraussuchen, ihrer Urteilskraft vertrauen, und sich deren Fazit anschließen. Nicht jeder hat jahrelang Zeit sich intensivst mit diesem Thema auseinander zu setzen, um selber alle Argumente einem Faktencheck zu unterziehen. Einfache Antworten in dieser komplizierten Materie sind meistens die falschen Antworten.
Interessanterweise gibt es nicht wenige Fälschungen, Falschdeutungen, zum Beispiel seitens der armenischen Position. Insofern kann ich viele Türken verstehen (aber nicht zustimmen), die der ganzen Völkermord-Debatte misstrauen, gegebenenfalls sogar von Verschwörungen zwecks Schwächung der Türkei ausgehen. Diese Fälschungen, oder Fehldeutungen sollte einen jedoch nicht dazu verleiten, gleich alles, was für einen Völkermord spricht, als Fälschungen, oder als Propaganda abzutun, denn das wäre doch zu einfach. Macht man bei anderen Themen doch auch nicht, diese Pauschalisierung? Da achtet man doch auch (zurecht) penibel darauf, z. B. nicht von der erhöhten Kriminalitätsrate von Deutschtürken darauf zu schließen, "die" Türken wären halt allgemein von Natur aus kriminell? Also sollte man auch darauf achten, nicht zu sehr zu vereinfachen, also von auftauchenden Fälschungen jegliche Forschungen seitens Armeniern gleich zu verdammen. Ebenso gilt es auch für die Gegenseite: Nicht jeder von der Türkei bezahlte westliche Forscher schreibt nur Propaganda, sondern liefert mitunter wertvolle Beiträge für die Debatte. Man sollte also Punkt für Punkt, These für These auf Stichhaltigkeit abklopfen, denn immerhin gibt es nicht so viele Historiker, die einigermaßen Brauchbares liefern, als dass man alle ignorieren könnte die jemals einen Fehler in ihren Arbeiten haben. Oder wie gesagt diese Arbeit den Profis überlassen, also weltberühmten Turkologen, Osmanisten, Historikern. Und dann deren Position sich zu eigen machen.

Ich konnte im Laufe der Diskussion, auch in deutschtürkischen Foren, etliche Positionen der Türken oder der Türkei nachempfinden, mich in sie hinein versetzen, denn ich habe mich schon immer gewundert, warum so bekannte Orientalisten wie Suraiya Faroqhi oder Klaus Kreiser in ihren Standardwerken (siehe den Buchtipp Reiter oben mit einsehbaren googlebooks) nicht klipp und klar von Völkermord sprachen, sondern sich lediglich auf die Beschreibung der schrecklichen Deportationen beschränkten. Dies hängt auch nicht mit dem berüchtigten Paragraphen 301 zusammen. Man könnte ja annehmen, dass einige (westliche) Turkologen sich einen Maulkorb verpassten, um Forschungen zukünftig noch in der Türkei ausführen zu können. Bei dieser Sichtweise wird verkannt, dass es durchaus schon seit etlichen Jahren viele viele Publikationen in der Türkei gibt, die durchaus auch offen von einem Völkermord schreiben. Das ein durchgeknallter ultranationalistischer Staatsanwalt Orhan Pamuk vor Jahren anklagte, sollte nicht dazu verleiten zu denken, in der Türkei könne nicht über den Genozid geforscht werden. Das kann also kaum der Grund dafür sein, warum einige Historiker nicht dezidiert von Völkermord schreiben.
Jedenfalls muss noch mehr geforscht werden, und das Urteil in Frankreich halte ich auch für kontraproduktiv. Doch trotz noch so mancher offener Frage, oder nicht geklärtem wissenschaftlichen Konsens, kann man schon heute eines festhalten:

Die Indizien, auch die Beweisketten reichen schon heute dazu aus, von einer hohen Wahrscheinlichkeit der Völkermord-These auszugehen. Die bisherigen gesichterten Fakten, trotz aller politisch intendierter Propaganda, auch schon zu Zeiten des 1. Weltkrieges, reichen durchaus aus, eher von einem geplanten Völkermord als dem Gegenteil auszugehen.
Das gebietet nicht nur die Faktenlage, sondern auch der gesunde Menschenverstand, die Logik. Denn um all diese Fakten zu entkräften, und von keinem Vorsatz auszugehen, müsste man schon sehr viele geistige Verrenkungen bis hin zu Verschwörungstheorien anstrengen. Zudem müsste man sehr oft Pauschalisieren. Quellen oder Befunde allgemein in ihrer Gesamtheit anzweifeln, etc.

Nein, allen (Deutsch-)Türken würde ich empfehlen, lieber heute als morgen, von einem geplanten Völkermord auszugehen, nicht aus Opportunismus, nicht, um hier nicht als "rechter Spinner" in Deutschland zu gelten, sondern einfach, weil die Wahrscheinlichkeit dieser These viel höher ist, als die der Gegenthese. Weil etliche Fakten einfach zwingend sind. Zudem, was wäre schon dabei jetzt der Völkermordthese zuzustimmen. Sollten in 10 oder 20 Jahren auf einmal total andere Ergebnisse herauskommen, kann man dann ja immer noch wieder auf die Leugnungsthese umschwenken. Abgesehen davon, gehen ja auch die Völkermordleugner von einem unendlichen Leid der Armenier aus, insofern könnte man sein Mitgefühl viel besser dadurch ausdrücken, dass man davon ausgeht, die Armenier sollten vernichtet werden, und nicht davon ausgeht, dass die Jungtürken einfach zu dumm waren, die Deportation zu sichern und mit genügend Lebensmittel zu versorgen. Heute ist es so, dass die internationale Historikerzunft trotz Gegenstimmen mehrheitlich von einem geplanten Versuch ausgeht, die Armenier möglichst zahlreich auszurotten.

Wobei es eine Position gibt, die ich bevorzuge, die auch einige Widersprüche aufklären kann, die manchem Zweifler Kopfzerbrechen macht. Die unten zitierte Position von Erik Jan Zürcher,
der quasi das Standardwerk, den Nachfolger des ebenso berühmten wie veralteten Werkes ("The Emergence of Modern Turkey") von Bernard Lewis laut Rezensionen schrieb. Die wichtigsten Schlüsselsätze werde ich hervorheben. Wer kein Englisch versteht, kann die automatisierte Übersetzung dieser Seite mittels der unteren Service-Leiste benutzen.

Noch ein Wort zu den einheimischen Deutschen, die den Völkermord-Skeptikern in Diskussionen allzu schnell in die gleiche Nazi-Ecke stellen wie Holocaust-Leugner. Diese Pauschalisierung, die Vereinfachung finde ich nicht richtig. Sicher, es gibt genügend (vielleicht auch nur besonders in dieser einen Frage) fanatisierte rechts oder nationalistisch gesinnte Türken, die durch ihre dauernden Rechtfertigungen, ihren Hass auf die heutigen (Diaspora-)Armenier, jegliche Mitmentschlichkeit mit den Opfern Hohn sprechen. Es gibt auch in jeglicher Hinsicht erkennbare rechte Ultranationalisten, mit denen man durchaus hart diskutieren kann, oder sie wie die Nazis gleich meiden kann. Die Mehrzahl ist  jedoch eher von einem Halbwissen getrieben, in Deutschland sowieso gewohnt, immer bei Diskussionen in der Defensive zu sein, und diese schart sich nicht selten in dieser einen Frage zusammen, um eine Wagenburg zu errichten, ein typisches Verhalten jeder Diaspora, unabhängig vom Thema. Außerdem gibt es gute Gründe, zumindest skeptisch bis unsicher in dieser Frage zu sein. Denn nicht nur türkische Historiker, auch international höchst renommierte Orientalisten, Fachleute aus Oxford, Harvard, Chicago oder Yale, hatten ihre Zweifel oder leugneten einen absichtlichen Völkermord. Dies führt einen Laien nicht gerade dazu, einen Völkermord vorbehaltlos anzuerkennen, sofern man auch diese westlichen zusätzlich zu den türkischen Stimmen kennt. Insofern sollten deutsche Diskutanten nicht diese Positionen gleichsetzen, mit denen der Holocaust-Leugner. Denn stellt euch nur mal vor, die Historiker Mommsen, Walter Kempowski, Mann, Michel Foucault, Wolfgang Benz, Ian Kershaw, usw. würden in einer wichtigen historischen Frage Zweifel an einer Mehrheitsmeinung haben, würdet ihr diese hochgelobten Historiker einfach zu Seite wischen wollen, mit dem Hinweis, alles rechte Leugner, nicht ernstzunehmen? So in etwa sollte man sich die Lage vorstellen, zumindest noch bis vor wenigen Jahren, daher bin ich auch gegen eine zu leichtfertige Gleichsetzung des Holocaust mit dem Völkermord an den Armeniern, bzw. mit der Beschäftigung beider Vorgänge.
Diese westlichen Stimmen der Skepsis bis Leugnung werden allerdings in den letzten 15 Jahren immer weniger, das verkennen wiederum die Türken. Einerseits, weil inzwischen die Forschung nicht stehen geblieben ist, und manche Türken noch so diskutieren, als würden wir uns in den 1980ern befinden, andererseits sterben einfach einige der alten Turkologen-Koryphäen, so dass diese auch gar nicht mehr auf neuere Untersuchungen eingehen könnten.

Außerdem sollten die deutschen Diskutanten noch bedenken, welch schrecklich hohe Mortalitätsrate damals im Osmanischen Reich herrschte, und welche Vorgänge vor der Deportation stattfanden. Nicht, um irgendetwas zu rechtfertigen, zu beschönigen, sondern einfach, um die Entwicklung zu den Massakern an den Armeniern zu verstehen, nachvollziehen zu können. So starben selbst bei den kriegsgefangenen Briten, Neuseeländern, Australier, usw. ein Drittel an den Folgen von Hunger und Seuchen, obwohl das Militär noch die meisten Ressourcen zur Verfügung gestellt bekam. Schlimmer sah es bei der anatolischen Bevölkerung aus. Der Völkermord hatte eine Vorgeschichte, er fand nicht im luftleeren Raum statt. Dadurch ist er nicht zu entschuldigen, doch dadurch wird auch klarer, warum Teile der jungtürkischen Regierung genau wussten, was sie taten, obwohl sie eigentlich oft als Makedonier kaum Kenntnisse über Anatolien hatten, und diese sich erstmal erwerben mussten. Denn wenn schon die Lage des Militärs so katastrophal war, so war ihnen sicherlich mehr als bewusst, dass eine Deportation zu jener Zeit die Folgen durch Hunger und Seuchen haben würde, die sie eben auch hatte, wodurch die meisten Todesopfer zu verzeichnen waren. Außerdem waren ihnen die vorhergehenden Pogrome an den Armeniern im 19. Jahrhundert bekannt. Sie wussten, welches explosives Gemisch an Flüchtlingen in den letzten Dekaden in Anatolien einwanderten. Woher kamen diese Millionen von Muslimen? Von den Massakern, den Pogromen, den Raubmorden, von den Enteignungen, den Vertreibungen, die die Siegermächte an der Peripherie des Osmanischen Reiches im Zuge der Unabhängigkeitskriege der Völker an den (oft turkophonen) Muslimen verübten. Also vorwiegend aus dem Balkan und Russland sowie dem Kaukasus, wenige auch von Mittelmeerinseln, oder aus Nordafrika.
Nur selten hört man einmal in den Medien etwas von den muslimischen Opfern, die es im Zuge des 1. Weltkrieges und davor in Massen gab.

Hier mal eine einzige Ausnahme in den etablierten Medien:

Die Erinnerung an die Armenier in der Osttürkei

MP3-Download des Beitrags:
Die Erinnerung an die Armenier in der Osttürkei (Download)
An die Massaker an den Armeniern im untergehenden Osmanischen Reich denkt die Welt, wenn es um die ostanatolischen Ereignisse von 1915 geht. In Ostanatolien ist das anders. Dort leben heute keine Armenier mehr. Und die moslemische Bevölkerung erinnert sich vor allem an das eigene Leid, das ihr von Armeniern zugefügt wurde.
Susanne Güsten begab sich in der osttürkischen Stadt Van auf Spurensuche. ...
Ich werde in einem künftigen Artikel ein wenig näher auf die Flüchtlingswellen der Muslime im schrumpfenden Osmanischen Reich eingehen.
Ich könnte mir aber sehr gut vorstellen, dass die Bereitschaft vieler Türken den Völkermord anzuerkennen und nicht bockig erstmal mit Ablehnung zu reagieren, steigen würde, wenn einerseits die Diskussionsteilnehmer als auch die Medien öfter mal das Leid der anderen Seite, der muslimischen Seite, die oft der der Armenier zuvor kam, zeigen und anerkennen würde. Die Berichterstattung ist doch im Bemühen ja keinen Verdacht eine dem Holocaust vergleichbare Relativierung vorzunehmen, alleine auf der einer Seite ihrer Berichterstattung. Das wäre vielleicht so, als würden die Medien alleine über die Verluste, die Ängste, die Verletzungen der US-Soldaten im letzten Irakkrieg berichten, aber kein Wort darüber verlieren, wie es den zivilen irakischen Opfern des Krieges geht, den sogenannten "Kollateralschäden". Obwohl, wenn ich mich recht erinnere, war über Irakis, die nachts aus den Betten gebrüllt und geschossen wurden, die dabei völlig unschuldig Todesängste ausstanden, deren Kinder Traumata erlitten, dass darüber auch herzlich wenig in unseren Medien berichtet wurde...
Die besondere Qualität der Brutalität bei den Todeszügen der Armenier soll damit keinesfalls aufgerechnet werden, Auge um Auge, "legitime Rache", wie es oft in Diskussionen heißt, nein, es soll nur darum gehen, dass man als historisch Interessierter nachvollziehen kann, verstehen kann, wie es zu dieser Explosion der Gewalt selbst bei sonst unbescholtenen Bürgern und ehemaligen Nachbarn kommen konnte, also Motivsuche. Und zum Völkermord an den Armeniern gehört eben zwingend die Vorgeschichte dazu. Erst in dieser Kombination glaube ich, dass einige, deren Meinung zum Völkermord noch schwankt und noch nicht völlig erstarrt ist, dann eher bereit wären, ihrerseits einzugestehen, dass sie einem türkischen historiographischem Mythos ähnlich der Sonnensprachtheorie aufgesessen sind, die in der internationalen Forschung nicht geteilt wird, und die demaskiert wurde.

Wie ihr in meinen obigen Ausführungen vielleicht bemerkt habt, gehe ich nicht oder kaum auf türkische Historiker, aber auch nicht auf armenische Historiker ein. Ich denke, am besten ist, wenn man sich einen möglichst neutralen Überblick verschaffen möchte, dass man sich da auf Historiker aus anderen (eher unbeteiligten) Ländern stützt, solange man nicht so belesen ist, selber entscheiden zu können, welche Thesen stichhaltig, und welche eher auf wackeligen Beinen stehen. Türkische und auch armenische Forscher sind doch nicht selten gerade in dieser Frage des nationalen Gründungsmythos der jungen Republiken hoch politisiert und eher befangen, als andere externe Historiker (siehe auch meine Beiträge zu den Mechanismen, wie Nationen konstruiert, erschaffen werden: Verhältnis der Muslime und Nichtmuslime im Osmanischen Reich 1. Teil)
Zumindest ist eine Überprüfung der Seriosität und der Reputation in der historischen Zunft einfacher. Außerdem kommt man so auch meist schneller an den Kenntnisstand der internationalen Forschung heran, denn wer in Leiden lehrt, wer in Oxford lehrt, etc., der ist sicherlich kein Exot mit einer Minderheitenmeinung. Selbiges könnte jedoch durchaus passieren, wenn man einem Dozenten Glauben schenkt, der vielleicht in Trabzon, Erzurum, Manisa, lehrt.

Genug der Worte, kommen wir nun zu oben erwähntem Standardwerk jedes angehenden Turkologen weltweit, auch in der Türkei steht dieses Buch auf der Liste der im Studium zu lesenden Werke. Das ist so in etwa der Kenntnisstand der (internationalen!) Wissenschaft zur modernen Türkei, inklusive der vorangegangenen Dekade. Zürcher sagt zwar, es war ein Völkermord, aber nicht von der gesamten jungtürkischen Führung ausgehend, so dass einige Widersprüche besser erklärt werden können, wenn gleichzeitig unterschiedliche Signale aus der Hohen Pforte (dem Regierungssitz) kamen. Ich traue diesem Nachfolger von Bernard Lewis zu, sich einen Überblick über die aktuelle Sekundärliteratur verschafft zu haben, erstens, weil es seine umfangreichen Sprachkenntnisse erlauben, zweitens, weil er für seine Werke durchweg hervorragende Rezensionen in der Fachliteratur erhalten hat, er weiß also, wie man korrekt und seriös wissenschaftlich forscht, und nicht zuletzt, ist diese jungtürkische Epoche sogar, anders als bei Bernard Lewis oder Standford Shaw, oder anderen Zweiflern und Leugnern einer seiner hauptsächlichen Forschungsschwerpunkte. Und das in der Türkei sogar (u.a.) nach seinen Büchern ausgebildet wird, zeigt, dass er auch den höchsten Respekt der türkischen Universitäten genießt.

Mehmed Talât Pascha, einer der Verantwortlichen damals bei dem
Genozid an den Armeniern. (1874-1921)


Weithin in googlebooks einsehbar:
Turkey: a modern history  von Erik Jan Zürcher. 2004


The Armenian question 

This military fiasco left eastern Anatolia open to a Russian advance,which duly materialized when the weather improved. It also marked the beginning of the suppression of the Ottoman Armenians, still a controversial issue 75 years later.
The Armenian community formed an important part of the population of the eastern Anatolian provinces although in no province did they constitute a majority or even a plurality (unless one counts Turks, Kurds and other Muslim communities separately, something the Ottomans never did). Estimates of the total number of Armenians in the empire vary, but a number of around 1,500,000, some 10 per cent of the population of Ottoman Anatolia, is probably a reasonable estimate.
After the troubles of 1896, the situation in the east had normalized to some extent, but relations between the local Armenians and Muslims, especially the Kurds, remained tense and there were frequent clashes. In May 1913, representatives of the Dashnakzutioun had demanded the establishment of a foreign gendarmerie to protect the Armenians in eastern Anatolia. The CUP government had approached the British about this matter and the latter had discussed it with the French and Russian governments. In February 1914 agreement was reached about the establishment of two inspectorates with far-reaching powers in eastern Anatolia and a Norwegian and a Dutch inspector were appointed in May.
The outbreak of war prevented the scheme from being put into operation. At the outbreak of the war, Armenian nationalists saw in a Russian victory their chance to achieve the establishment of an Armenian state in eastern Anatolia. Russian propaganda encouraged these aspirations.
A few thousand Armenians joined the Russian army; there were Armenian desertions from the Ottoman army and guerrilla activity behind the Ottoman lines. Confronted with this situation, the Ottoman army started sporadic deportations in the area behind the front. A number of relatively small-scale massacres occurred. By the end of March, the central committee of the CUP in all probability took a decision to relocate the entire Armenian population of the war zone to Zor in the heart of the Syrian desert, and eventually from there to southern Syria and Mesopotamia. An uprising by the Armenians in the provincial capital Van, to the rear of the retreat, heightened the sense of urgency. Deportations started in earnest in May. They were then sanctioned retrospectively by official cabinet decisions on 27 and 30 May 1915. By the summer of 1915 eastern and central Anatolia had been cleared of Armenians. This was followed by the deportation of the Armenians in the west, which took until the late summer of 1916 to complete. Although in broad terms the deportations followed a very similar pattern, the execution varied from place to place. In some places, the families were given 24 hours notice, in others several days. In some they were allowed to sell their possessions, in others these were ‘taken into custody’ by the authorities. In some places carts and donkeys were allowed, in others everyone had to go on foot. The caravans of Armenian deportees were guarded by gendarmerie troops, who often acted very brutally. Although the numbers of gendarmes accompanying the caravans was tiny, the victims apparently were so shocked into submission that we find almost no instances of resistance.
These deportations (officially called relocation – tehcir) resulted in the deaths of enormous numbers of Armenians. So much is undisputed historical fact. 

Freitag, 16. Dezember 2011

Istanbul, warum eigentlich?

Heute Abend nur mal ein Hinweis und Auszüge aus einem sehr schönen Artikel von Türkei-Kenner Dieter Sauter, den ich schon seit fast einem Jahr als offenen Tab in meinem Firefox-Browser zur Bearbeitung geöffnet hatte:

Istanbul - größte Stadt zwischen Moskau und Kairo,
zwischen Teheran und London


Istanbul - Land ohne Hauptstadt

(15.01.2011) Es ist gerade mal 10 Jahre her, da hatte ich noch einen Mitleidsbonus, wenn ich in Deutschland irgend Jemandem erzählte, ich lebe in Istanbul. Man konnte das „Ach Gott, der Arme – halt’ durch Junge!“ in fast allen Gesichten erkennen. Und heute? Heute nicken die meisten anerkennend und bei manchen scheint auch ein bisschen Neid auf: „Ahaaa – Istanbul !! Ja, da wollte ich auch schon lange mal hin!“

Warum eigentlich ? Wegen der Lebensqualität ? Vergiss’ es !


Zur Erholung stehen dem Einwohner von Istanbul gerade 1,5 qm Fläche zur Verfügung ( dem Einwohner von Hamburg gut 17 qm ). Die meiste Zeit verbringt der Istanbuler sowieso in einem Stau. Weht zwei Tage kein Wind am Bosporus, dann muss wegen des Smogs auch der Schiffverkehr gestoppt werden. Im grössten Wasserreservoir der Stadt wurden zum Jahreswechsel hochgiftige Substanzen gemessen. In Sachen Lebensqualität landete Istanbul vor einem Jahr nach der Zeitschrift „The Economist“ weltweit auf Platz 110 von 140. In der Disziplin „Wie teuer ist es?“ hat sich die Stadt dagegen weltweit schon auf einen guten Platz 20 hochgearbeitet. Wer als Krankenschwester oder Polizist nach Istanbul versetzt wird, wehrt sich mit Händen und Füssen, schon wegen der Mieten. Erst seit unzählige Kameras die Strassen überwachen geht der Taschendiebstahl zurück, der bis dahin alle Rekorde schlug.

All das kann aber dem Ruf Istanbuls nichts anhaben. [...]

Istanbul in die EU aufnehmen ?

Es gibt kaum ein Land, dessen Image sich derart von dem seiner grössten Stadt unterscheidet. Wer Türkei sagt, denkt an übermächtige Militärs, die Kurdenfrage, an Islamismus oder den EU-Beitritt, den keiner will - aber Istanbul? Das hat damit anscheinend überhaupt nichts zu tun. Istanbul in die EU aufnehmen ? Damit hätte er kein Problem, meinte letztes Jahr sogar der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) bei seinem Besuch am Bosporus. „Istanbul ist das New York des Orient’“ hörte ich kürzlich eine Museumsdirektorin aus Washington auf einer Vernissage in Zentrum der Stadt schwärmen. „If I can make it there - I'll make it anywhere”, was Frank Sinatra über New York singt, gilt auch für die Stadt am Bosporus. [...]

Die alten Residenzen und Herrensitze am Bosporus bröselten langsam vor sich hin. Mit der Vertreibung vor allem der grossen griechischen Gemeinde in Istanbul in den 50iger und 60iger Jahren des vergangenen Jahrhunderts verfielen auch zahlreiche prächtige Bürgerhäuser im Zentrum der Stadt, in Beyoglu, auf der europäischen Seite. Arme aus Anatolien, die dort kein Auskommen mehr hatten, besetzten das ehemalige Stadtzentrum, weil dort sowieso keiner leben wollte.

Als ich vor rund 20 Jahren nach Istanbul kam, lag der Stadtteil Beyoglu nachts im Dunkeln. Nur wenige wagten sich nach 22 Uhr noch auf die Strasse. Selbst tagsüber verriegelten ängstliche Taxifahrer die Türen ihrer Fahrzeuge, wenn sie bestimme Strassenzüge passierten. Es gab keine Galerien, nur ein paar Kinos mit durchgesessenen Polstern und Filmen auf dem Niveau des deutschsprachigen Quatschkinos der 60iger Jahre.

Samstag, 10. Dezember 2011

Zivilisation oder Barbarei? Der Islam im historischen Kontext

Das Indien des Taj Mahal, wo Mehrdeutigkeit eine zeitlang als Segen Gottes galt
Mir ist gerade ein interessanter Artikel der Neuen Zürcher Zeitung über den Weg gelaufen, der Appetit auf ein Buch macht, welches gerade vor wenigen Tagen erschienen ist:

Alexander Flores: Zivilisation oder Barbarei? Der Islam im historischen Kontext. 2012.

Es ist noch zu frisch, als dass es dazu Rezensionen gäbe, so schauen wir erstmal auf den Klappentext, was dieser Islamwissenschaftler in dem Buch zu sagen hat:
In der laufenden Debatte über den Islam arbeiten sich Kritiker wie Apologeten an der jeweils anderen Position ab und drohen dabei die Sache selbst aus dem Blick zu verlieren. Demgegenüber plädiert Alexander Flores für eine Ausweitung des Horizonts über den aktuellen Tellerrand hinaus. Er kann zeigen, daß über weite Strecken der islamischen Geschichte die Hegemonie der Religion über das Leben menschliche Freiheit, Kreativität und Produktivität kaum eingeengt hat. Erst bestimmte neuzeitliche Entwicklungen haben dazu beigetragen, daß sich das bis zu einem gewissen Grad geändert hat. Die Gründe dafür liegen aber nicht zwingend in der Logik islamischen Denkens und Handelns, so daß heutige Muslime die Möglichkeit haben, ihre Religion menschenfreundlich zu verstehen, wenn sie das wollen und wenn man ihnen die Gelegenheit dazu einräumt.
Das hört sich doch schon einmal interessant an, und da es kaum Informationen zu diesem Buch gibt, stelle ich hier nun den heutigen NZZ-Artikel einmal vor, wo Alexander Flores Einblicke in seine Positionen und Forschungen gewährt. Darin erinnert er mich stellenweise an die etwas islamkritischeren Aussagen von Wolfgang Günter Lerch in dem zitierten Abschnitt seines Buches in meinem 4. Artikel zum Islamismus gestern.


Der Islam – Korsett oder weiter Mantel?

Die gegenwärtige Islamkritik im Spiegel historischer Realitäten


Die heutige Kritik an menschenrechtlichen Defiziten und ideologischen Verhärtungen in muslimischen Gesellschaften ist nicht unbegründet. Allerdings stützt sie sich oft auf Vorstellungen, die sich im genaueren Blick auf die Historie als unrichtig oder zumindest zu wenig differenziert erweisen.

Alexander Flores

Islamkritik ist in aller Munde. Wir konstatieren Probleme in den muslimischen Gesellschaften; wir sehen aggressives Verhalten und entsprechende Haltungen bei Muslimen. Viele glauben zu wissen, der Islam sei eine grundsätzlich problematische Religion, sei Barbarei, ein Stück in die Gegenwart ragendes Mittelalter. Diese Auffassung kursiert in zwei Versionen: Einmal wird ein besonders inhumaner, weil theozentrischer und aggressiver Charakter des Islam behauptet, der sich in den Glaubensinhalten und in der Scharia niederschlage, dem «Gottesgesetz», das den Gläubigen vom islamischen Staat rigoros aufgezwungen werde. Und das soll von besonderer Durchschlagskraft sein, weil es im Islam keine Trennung von religiösem und weltlichem Bereich gebe und geben könne.

Die zweite Version ist die Vorstellung vom Niedergang der islamischen Zivilisation nach einer Periode historischer Grösse. Diese Grösse, die man in den ersten Jahrhunderten der islamischen Geschichte verwirklicht sieht, sei neben der wirtschaftlichen Blüte durch geistige Freiheit, kulturelle Offenheit, Rationalität und durch weitgehend ungehinderte Bemühung um Problemlösungen auch im islamischen Recht gekennzeichnet gewesen. Dies alles sei durch Erstarrung, geistige Austrocknung und wirtschaftliche Stagnation abgelöst worden; spätestens mit dem 11. Jahrhundert habe ein Niedergang der islamischen Weltgegend eingesetzt. Dieser Niedergang habe die Region derart geschwächt, dass sie in der Konkurrenz mit Europa den Kürzeren gezogen habe und diesem beziehungsweise dem Westen bis heute hoffnungslos unterlegen sei, was dann wiederum zum irrationalen Ressentiment und manchmal zur Gewalt von Muslimen gegen den Westen führe. Der Grund für Stagnation und Niedergang liegt gemäss dieser Sicht der Dinge in kulturellen Faktoren, in erster Linie im Islam selbst. Die Frage, warum ihre Religion den Muslimen in der Frühzeit eine zivilisatorische Blüte gestattete, dann aber den genau umgekehrten Effekt gezeitigt haben soll, bleibt unbeantwortet.

Ein defizitärer Glaube?


Freitag, 9. Dezember 2011

Islamismus - 4. Teil

Flagge der afghanischen Taliban,
ein (schon vor der Invasion des Westens) gescheitertes
islamistisches Staatsexperiment
 Heute stelle ich neben einer etwas längeren Leseprobe mal eine Magisterarbeit zur Genealogie des Islamismus vor. Ich habe diese Arbeit jedoch nicht gelesen, noch weiß ich, welche Benotung diese Arbeit erhielt, doch die Einleitung hört sich interessant, wenn auch etwas vollmundig an. Dazu kommt als letzter Text noch eine Leseprobe zum Islamismus aus philosophisch-historischer Sicht.

Zur Genealogie des Islamismus

Thomas Zuleck: Zur Genealogie des Islamismus. Diplomarbeit, Universität Wien. Fakultät für Sozialwissenschaften 2009.

PDF-Download

Die Frage „Was ist Islamismus?“ erscheint vordergründig trivial und wird meist auf dieselbe Weise beantwortet. Es spielt dabei oftmals keine Rolle, ob sich dieser Frage im westlichen oder auch im arabischen Diskurs angenommen wird. Die Erklärungsmuster bleiben – leider – oftmals ebenso trivial wie die Frage an sich und unterscheiden sich vor allem in der hermeneutischen Herangehensweise nur bedingt von islamistischen Strömungen. Kurz, es wird zuweilen (auch von Seiten der Wissenschaft) eine Wirklichkeit konstruiert, welche jedoch mit der Realität nicht unbedingt viel gemeinsam haben muss. Diese Arbeit setzt sich nun zum Ziel, diese festgefahrenen Denkmuster – hüben wie drüben – zu dekonstruieren und sich von selektiven Denkmustern zu emanzipieren. Um sich dem Phänomen des Islamismus annähern zu können, wird diese Arbeit das Phänomen immer wieder auf einen größeren Kontext beziehen und die Begleitumstände für das Entstehen islamistischer Strömungen ebenso betrachten, als auch eventuelle geopolitische Besonderheiten oder auch herausragende Personen des islamistischen Spektrums. Dabei sollen einerseits die Gründe eruiert werden, weshalb der extreme Islamismus immer wieder an sich selbst gescheitert ist, als auch andererseits eben jene Gründe die diesem immer wieder zu seiner Revitalisierung verholfen haben. Das Ziel dieser Analyse liegt demnach darin, die Ausprägungen, die Entwicklungen und die Brüche des Islamismus nachzuvollziehen und einer eigenständigen Erklärung zuzufügen, welche frei ist von unreflektierten, unausgegorenen Verallgemeinerungen. Jedoch, und das ist kein minder wichtiger Aspekt, wird diese Arbeit auch Kritik, sowie eine Selbstreflexion – im „Orient“ wie im „Okzident“ – einfordern werden müssen!

Einige Ausschnitte, aus dieser Magisterarbeit:

Aus der Einleitung, eine Tatsache, die ich in Diskussionen immer und immer wieder klarstellen muss.
Der bereits tot geglaubte Verkaufsschlager Samuel Huntingtons, wurde nach den
Anschlägen vom 11. September aus den hintersten Regalen der Buchhandlungen wieder in die erste Bank der Bestsellerliste katapultiert, während Publikationen, welche die offensichtliche Fehlerhaftigkeit und Unzulänglichkeit der Huntington’schen Thesen offen legten, den Platz tauschten und schließlich in den Kellern verschwanden.

Dienstag, 6. Dezember 2011

Cyber-Nazi fordert Schäubles Tod

Wolfgang Schäuble


Spiegel Online:

Neonazismus


Cyber-Nazi fordert Schäubles Tod


Ein deutschsprachiger Cyber-Nazi hat in einem Internet-Posting Fotos von Bundesinnenminister Schäuble und anderen vermeintlichen Islam-Apologeten veröffentlicht - und mit einem Hitlerzitat versehen, das wohl als Mordwunsch gemeint sein soll.


Berlin - Im derzeit bedeutsamsten deutschsprachigen vordergründig rechtspopulistischem Internetforum hat ein Mitglied indirekt den Tod mehrerer deutscher Politiker und religiöser Funktionäre gefordert.

Als "Söhne von Affen und Schweinen", die es zu bekämpfen, beziehungsweise "abzuschlachten" gelte, bezeichnete der Cyber-Nazi, der im Internet als "KarlMartellQ" agiert, den Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU), den evangelischen Berliner Bischof Wolfgang Huber, den Richter Ottmar Breidling von Düsseldorfer Oberlandesgericht, den Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Axel Ayub Köhler, sowie den Prediger der Berliner al-Nur-Moschee, Abdul Adhim Kammouss.

Ein entsprechendes Posting hinterließ "KarlMartellQ" jedenfalls in der vergangenen Woche im Forum einer einschlägig bekannten, deutschsprachigen Anti-Islam-Website. Insgesamt stellte er 15 Bilder ein, die zum einen die oben Genannten zeigten. Zum anderen aber auch die vier Angeklagten der so genannten "Zwickauer-Neonazi-Zelle". Diese mutmaßlichen Terroristen verherrlicht "KarlMartellQ" allerdings in dem Posting, ebenfalls mit Hilfe eines aus dem Zusammenhang gerissenen Hitlerzitats.

Islamismus - 3. Teil

Ruhollah Chomeini, 1902 - 1989, war ein schiitischer
Ajatollah und der politische und spirituelle Führer
der Islamischen Revolution in Iran von 1978 bis 1979.

Eigentlich könnte ich hier jeden Tag über Jahrzehnte hinweg Zitate aus der Sekundärliteratur einfügen, so viel Material gibt es zum Islamismus, besonders seit den Terror-Anschlägen in den USA am 11. September 2001. Ich versuche in der nächsten Zeit noch einige interessante Postings zu diesem Thema zu veröffentlichen, besonders werde ich jedoch in einem der nächsten Postings mein Augenmerk auf zusammenfassende Enzyklopädie-Artikel richten, denn Aufsätze oder ganze Bücher zu bestimmten Themen des Islamismus oder eher allgemeinerer Art, auch über den Terrorismus, gibt es wie gesagt wie Sand am Meer. Und ich kann schwerlich komplette Bücher hier zitieren, oder die wichtigsten Absätze aus Büchern hier präsentieren, denn das wäre dann doch zu zeitintensiv alle Bücher nochmals durchblättern.
Dennoch, vor den allgemeinen und zusammenfassenden Enzyklopädie-Zitaten in einem der zukünftigen beiden Postings, die ich schon in den letzten beiden Blogartikeln 1 und 2 zum Teil vorstellte, werde ich heute nochmals Leseproben aus interessanten Büchern präsentieren.


Es gibt in der islamwissenschaftlichen Fakultät Halle einige sehr gute frei zugängliche Manuskripte als Vorlesungsmaterial, die angesichts der großen Anzahl an oberflächlichen oder gar schiefen oder noch schlimmer falsch verstandenen Erläuterungen in den Artikeln der Massenmedien eine Wohltat darstellen. Denn dieses Vorlesungsmaterial räumt doch nicht selten mit falschen Vorstellungen nicht nur in den Massenmedien, sondern auch in etlichen populärwissenschaftlichen Werken auf. Und das gute ist, dass der Leseaufwand recht gering ist, da meist stark die Geschichte des islamischen Kulturraumes komprimiert wird, und dennoch es nicht an notwendiger Differenzierung mangelt.

Hier nun einige Ausschnitte aus dem Skript:

Die Entstehung der salafīya

Einleitung: Der Orient und die Moderne

Ist der Orient – genauer: der islamische Orient – „modernefähig“? Manchmal hat diese Frage auch eine andere Form, man fragt nach der Kompatibilität von Islam und
Moderne oder Islam und Demokratie, und knüpft daran besorgte Prognosen über die Zukunft der arabischen oder insgesamt der islamischen Welt. Es wird darauf verwiesen, dass der Orient, genauer: der islamische Orient, keine Aufklärung erlebt habe, und fügt dann die Frage an, ob der Islam wohl „aufgeklärt“ werden könne; man verweist auf die christlichen oder – historisch korrekter – christlich-jüdischen Wurzeln der europäischen Kultur und meint, mit diesem Hinweis auch die Aufklärung integriert zu haben (wobei der teilweise vehement antiklerikale und antireligiöse Charakter der Aufklärung eigenartigerweise so gut wie nie erwähnt wird). Antipode dieser Vorstellung ist implizit eigentlich immer der Islam, der damit von dem europäischen Projekt der Moderne ausgeschlossen wird.
[...]
Reaktion auf zunehmende Schwäche der islamischen Länder
[...]


Sonntag, 4. Dezember 2011

Ruprecht Polenz kritisiert digitale Lynchjustiz auf Facebook bei einem israelisch-palästinensischem Friedensprojekt

Ruprecht Polenz,
Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des
Deutschen Bundestages

Ruprecht Polenz, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages, kritisiert digitale Lynchjustiz auf Facebook bei einem israelisch-palästinensischem Friedensprojekt. Es geht um strafrechtlich relevante Verleumdung, es geht um Deutungshoheit mit allen - auch unlauteren - Mitteln. Hier die Genese dieses skandalösen Vorganges, der zeigt, wie Rechtspopulisten und andere versuchen kleine Schritte zum Frieden zwischen Israelis und Palästinensern zu torpedieren, wohl auch aus Angst, ihr schlichtes "Feindbild Islam" könne ihnen eines Tages abhanden kommen.
Freitag, 2. Dezember 2011

DIGITALE LYNCHJUSTIZ

Es herrscht Krieg, ein Cyberkrieg im Internet der vor allem auf Facebook ausgetragen wird. Worum gehts eigentlich? Es geht um einen arabisch-jüdischen Waldorfkindergarten in Israel mit dem schönen Namen „Ein Bustan“. Also um Kinder die ja unsere personifizierte Zukunft sind. Bei der Gründung des Waldorfkindergartens gabs keine heftig geführte Auseinandersetzungen, im Gegenteil. Vielleicht ist "Ein Bustan" gefährlich, denn der Kindergarten macht Furore. Funktioniert dieser Kindergarten ja für manche zu gut und genießt nicht nur in Israel einen hervorragenden Ruf, sondern in der ganzen Welt. Es hat sich herumgesprochen, dass es sehr wohl möglich ist, selbst unter der derzeitigen gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit, ein arabisch-jüdisches Gemeinschaftsprojekt zu verwirklichen. Der nun eskalierende und international Aufmerksamkeit hervorrufende Konflikt um "Ein Bustan" hat seine Wurzeln in der unterschiedlichen Sichtweise, wie man denn zu einem Frieden im Nahen-Osten kommen könnte. Zur Zeit haben in dieser Auseinandersetzung die "Tauben" verloren und die "Falken" die Oberhand. Doch die Mittel die in dieser Auseinandersetzung eingesetzt werden sind brutal. Gilt es ja die Meinungshoheit in den Medien mit allen "Waffen" zu erlangen. Da werden Accounts von Unterstützern von „Ein Bustan“ gehackt, da werden Freunde von „Ein Bustan“ aus der Facebook-Gemeinde, ohne ordentlicher Anhörung und Prüfung, gesperrt und nun werden die Förderer des Kindergartens „Ein Bustan“ kriminalisiert.

Was ist passiert?

Samstag, 3. Dezember 2011

Geert Wilders ist schizophren, aber nicht jeder Schizophrene ist Geert Wilders

Geert Wilders

Hier mal eine interessante Meinung in der Wochenzeitschrift DIE ZEIT, die mir als diskussionswürdig erscheint:


Geert Wilders ist schizophren, aber nicht jeder Schizophrene ist Geert Wilders

Es passte nichts zusammen, und eben das passte am Ende für die Gutachter zusammen. Sie attestierten dem niederländischen Geert Wilders nun, an paranoider Schizophrenie erkrankt zu sein. [...]

Wilders Kurzfilm "fitna" wurde schon vielfach ausgedeutet. Es ist eine bizarre Mischung unterschiedlichster Ideen, von Nationalismus, Antifeminismus und Islamophobie bis hin zu Zionismus und verschrobenen Anklängen an Zahlenmagie und ans Christentum. Geert Wilders sieht sich als zukünftiger Herrscher der Niederlande vereinigt mit dem belgischem Flandern, als Mitglied einer (nicht existierenden) Ein-Parteien-Diktatur. Er plant, Muslime in Reservaten zu stecken oder zu deportieren.

Wilders Gedanken werden durch Wahnideen bestimmt

Aus dem Gedankengebräu kann man eigentlich nur eines herauslesen: einen tiefsitzenden Verfolgungswahn. Seine Schriften sind das Produkt eines sich bedroht wähnenden Geistes, der den Hass auf seine Verfolger als Ausweg sieht. Die Gutachter glauben, dass Wilders in seinem eigenen wahnhaften Universum lebt, in dem "all seine Gedanken und Handlungen durch seine Wahnideen bestimmt werden".

Manche Kommentatoren entrüsten sich über das Gutachten, weil es die Rechtspopulisten und selbsternannte "Islamkritiker" der Geschichte entlaste, die auch im Namen vermeintlich höherer Ideen geistig brandstiften. Das Gutachten banalisiere das offenkundig Böse von Wilders Antrieb. Aber zwischen Wilders Wahn und den "überwertigen" Ideen von Fanatikern bestehe ein großer Unterschied, sagt Norbert Leygraf, Experte für forensische Psychiatrie an der Universität Duisburg-Essen.

Selbst ein Fanatiker sei dazu imstande, zu seiner Idee kritischen Abstand zu gewinnen. Wer im Wahn gefangen ist, kann das nicht. Wilders glaubt vermutlich wirklich, der letzte Kämpfer für seine Form der "Freiheit" und der Erlöser der Niederlande zu sein. Seine abstrusen Ideen sind nicht, wie bei Fanatikern, die treibende Kraft ihrer Taten, sondern ebenso wie diese ein Symptom der Krankheit. Die roboterhafte Kaltblütigkeit seiner Attacken gegen alles Islamische und sein merkwürdig ungerührter, fast entrückter Gesichtsausdruck bei der verbalen Hetze gegen Muslime fügen sich in dieses Bild.

Für viele ist unverständlich, wie Wilders seine Thesen über Jahre sorgfältig entwickeln konnte, wenn er doch verrückt war. Es stimmt zwar, dass die meisten Schizophrenen geistig so wirr (und natürlich völlig harmlos) sind, dass sie zu einer solchen Thesenentwicklung weder gewillt noch in der Lage wären. Aber: Die Schizophrenie bringt zwar die Gedanken durcheinander, sie schwächt jedoch fürs Erste nicht die Intelligenz – der schizophrene Mathematiker John Nash hat es bis zum Nobelpreis gebracht.

Freitag, 2. Dezember 2011

Islamismus - 2. Teil

Muhammad Badi'e, aktueller Vorsitzender der ägyptischen Muslimbruderschaft.
Wie oft bei islamistischen Führern, ein religiöser Laie, also ein ausgebildeter Tierarzt,
kein ausgebildeter Theologe oder religiöser Rechtsgelehrter.


Hier nun der zweite Teil meiner Islamismus-Artikelserie die ich kürzlich begann, mit interessanten Artikeln und Zitaten, die hoffentlich ein besseres Verständnis dessen vermitteln, was momentan z.B. Nordafrika unter anderem beschäftigt:
Islam, Menschenrechte und Demokratie:
Anmerkungen zu einem schwierigen Verhältnis


In jüngster Zeit hat sich die Debatte um die Chancen einer Demokratisierung muslimischer Gesellschaften neu belebt. Dies betrifft Algerien, Saudi-Arabien oder den Irak ebenso wie Iran, Afghanistan oder Indonesien. Auch in der islamischen Welt wird der Ruf nach „guter Regierungsführung“, Rechtsstaatlichkeit und der Achtung der Menschenrechte lauter, und zwar selbst in islamistischen Kreisen, die vor allem für ihre Ablehnung alles Fremden, „Un-Authentischen“ bekannt sind.
Wie aber stellen sich Islamisten eine den modernen Lebensverhältnissen adäquate „islamische Ordnung“ vor? Lassen sich in ihr Elemente einer freiheitlich-demokratischen Verfassung ausmachen, selbst wenn der Begriff der Demokratie nicht fällt, vielleicht sogar als „unislamisch“ abgelehnt wird?

Islam und Islamismus

Eine der vielen Schwierigkeiten im Umgang mit dem Islam und der islamischen Welt besteht darin, dass unterschiedliche Wertvorstellungen, Verhaltensweisen, gesellschaftliche Strukturen und politische Aktionen von Muslimen selbst häufig als „islamisch“ oder als Ausdruck „des Islam“ (des „wahren“, gelegentlich auch des „falschen“ Islam) bezeichnet werden, so dass auch bei unvoreingenommenen Betrachtern der Eindruck entsteht, „der Islam“ sei Ursache und Zweck aller möglichen Erscheinungen vom engen Zusammenhalt der Familie bis zur Unterdrückung der Frau und von der Verehrung politischer Führer bis zur Kritik am Westen. Da kann es nicht verwundern, wenn immer wieder gefragt wird, ob nicht im Islam der Grund für gesellschaftliche Missstände, autoritäre Strukturen und all die Formen von Gewalt zu suchen ist, die über die Medien eine internationale Öffentlichkeit erreichen: Gewalt gegen Ungläubige, Gewalt gegen Minderheiten, Gewalt gegen Frauen. Damit aber ist genau die Art der essentialistischen Betrachtung erreicht, mit der Orientalismus-Kritiker seit Edward Said so hart ins Gericht gegangen sind.

Darüber, was Islam bedeutet, und ob es überhaupt legitim und sinnvoll ist, gesellschaftliche und kulturelle Erscheinungen in muslimischen Gesellschaften mit „dem Islam“ zu erklären, wird in der Wissenschaft heftig gestritten. Tatsächlich tut man gut daran, zwischen mehreren Dimensionen islamischen Denkens und muslimischen Handelns zu unterscheiden, die im konkreten Fall ganz unterschiedlich miteinander verbunden sein können: dem Islam als historisch eingebetteter, da von Menschen (und zwar ganz überwiegend Männern) erarbeiteter normativer Tradition, die auf einem Corpus heiliger Texte aufbaut; der orts-, zeit- und milieuabhängigen Praxis von Musliminnen und Muslimen in Geschichte und Gegenwart, die keineswegs durchgängig durch die normative, in Texten festgelegten Tradition bestimmt sein muss; und schließlich den ebenso vielfältigen Vorstellungen, die sich Musliminnen und Muslime von einem „rechten“ islamischen Leben machen, die von der normativen Tradition und der eigenen Lebenspraxis geleitet sein können, nicht selten aber auch von ihnen abweichen. Islam ist ganz offensichtlich nicht gleich Islam, und das gilt für die Lehre ebenso wie für die Praxis. Und wie immer er gelebt und verstanden wird – das soll an dieser Stelle gleich gesagt werden – kann der Islam allein die bestehenden Verhältnisse in den verschiedenen muslimischen Gesellschaften nicht erklären; er stellt bestenfalls ein Bestimmungsmoment unter mehreren dar.
Im vorliegenden Fall, wo es um das Verhältnis von Islam, Menschenrechten und Demokratie geht, ist zunächst die normative Tradition angesprochen, die im Wesentlichen durch zwei Texte begründet wird:
den Koran als nach muslimischem Verständnis direkter göttlicher Rede („Offenbarung“) und die Sunna als von der göttlichen Offenbarung inspirierte prophetische Rede und Praxis („Prophetentradition“). Beide gelten sie Muslimen als heilig und daher weitgehend unantastbar: Über den Status des Koran als Gotteswort öffentlich zu diskutieren, ihn gar nach dem Muster der historischen Bibelkritik als literarischen Text zu analysieren, ist in weiten Teilen der islamischen Welt derzeit so gut wie unmöglich.

Weniger tabubeladen, wenn auch nicht ganz gefahrenfrei, ist der Umgang mit der Sunna als der Sammlung derjenigen Aussagen und Handlungen des Propheten Muhammad, die für spätere Generationen verbindlich, in Teilen sogar rechtsverbindlich sind. Anders als der Koran liegt die Prophetentradition nicht in Gestalt eines einzelnen Buches vor, sondern in mehreren Sammlungen, die zahlreiche als verlässlich geltende Einzelberichte (Hadithe) vom Reden und Handeln des Propheten umfassen, die von islamischen Gelehrten des 8. und 9. Jahrhunderts christlicher Zeitrechnung zusammengestellt wurden.

Der Koran ist hinsichtlich seiner Sprache, Komposition und Struktur sehr anspruchsvoll und daher in jedem Punkt auslegungsbedürftig, selbst dort, wo seine Aussagen auf den ersten Blick klar und eindeutig erscheinen mögen. Das gilt für dogmatische ebenso wie für rechtsrelevante Fragen. Islamischen Gelehrten war und ist dies im Allgemeinen bekannt; von Islamisten hingegen wird es gerne übersehen – wenn nicht überhaupt einfach abgestritten. ...


Donnerstag, 1. Dezember 2011

TV-Tipp: Schätze des Islam

Museum für islamische Kunst im Pergamonmuseum (Berlin)
Fliesen mit Kalligraphien aus dem persischen Kulturraum


Heute abend gibt es um 20.15 Uhr auf 3Sat einen Programmtipp:

Es wird das Museum für islamische Kunst im Pergamonmuseum in Berlin vorgestellt.
Diese und andere Sendungen lassen sich auch noch in diversen Mediatheken nachträglich anschauen, sowie werden auf diversen Sendern wiederholt, zum Beispiel auf Phoenix.

Schätze des Islam

Jahrhundertprojekt Museumsinsel

3sat
Heute
20:15 - 21:00 (45 Min.)
16 zu 9 Format Stereo

Mit dem Auszug von Skulpturen und Objekten aus dem Nordflügel des Pergamonmuseums beginnen die Vorbereitungen für das vierte Großprojekt auf der Museumsinsel. 2019 soll dort das Museum für Islamische Kunst eröffnet werden.

Es ist das einzige Museum für islamische Kunst in Deutschland und hat weltweit einen herausragenden Stellenwert. Dreimal so groß wie jetzt wird es dann sein, über zwei Etagen reichen und so attraktiv aussehen, dass neben den schon erreichten Steigerungsraten - aktuell über 600.000 Besucher jährlich - auch Menschen, die sonst nicht ins Museum gehen, erwartet werden. Schon jetzt birgt das Museum für Islamische Kunst auf der Museumsinsel unglaubliche Schätze: das einzige noch erhaltene Zimmer eines vermögenden Händlers aus Aleppo aus der Zeit um 1600 mit jüdischen, christlichen und islamischen Motiven, Originalgebetsnischen aus Konya und Damaskus, eine Kuppel der Alhambra und Vieles mehr. Fast alle Dynastien - von den frühen Großreichen, die von Spanien bis Persien und Afghanistan reichten, bis hin zu den Moguln in Indien - sind vertreten. Herausragende Kunstwerke aus Elfenbein, Silber und Keramik, Teppiche, Buchkunst und Kalligraphien sind zu sehen, die das Verbindende, aber auch das Unterschiedliche der verschiedenen islamischen Welten deutlich machen.

An der Seite des Museumsdirektors Stefan Weber dokumentiert "Schätze des Islam" die Entwicklung dieses Ausstellungskonzeptes im Jahr 2011. Dazu gehört nicht nur die Diskussion um die Aufstellung des Hauptwerkes des Museums, der riesigen und eindrucksvollen Palastfassade von Mschatta aus dem Ommayadenreich, die Beschaffung von Sponsoren- und Fördergeldern sowie die Aufgabe, einen der reichsten Sammler der Gegenwart dazu zu bewegen, kostbare Kunstwerke nach Berlin zu geben, sondern vor allem auch zusammen mit den Architekten die Planung der zukünftigen Räume.

Der Film ist Teil einer Langzeitdokumentation über den Wiederaufbau der Berliner Museumsinsel, den das ZDF und 3sat seit 2001 als Medienpartner begleiten.


Dazu gibt es begleitend einige schöne Artikel auf der 3Sat-Seite: