Samstag, 1. Juni 2013

Proteste in Istanbul und das Lagerdenken

Friedliche Demonstranten wurden in Istanbul brutal niedergeknüppelt,
daraufhin zahlreiche Solidaritätsdemonstrationen in der Türkei

Heute geht es um die Proteste rund um Taksim, den Gezi Park, der sich inzwischen auf die ganze Türkei ausgedehnt hat, und die Diskussionen darüber. Stichwort #occupygezi

Ich sollte vielleicht mal wieder vermehrt im Blog veröffentlichen, denn meine Statements in Facebook und auf Google Plus verschwinden doch recht schnell in der Versenkung, sind aber oftmals zeitlos gültig, und könnten immer mal wieder hervorgeholt werden. Sollte dieser Artikel vermehrt auf sozialen Netzwerken geteilt werden, werde ich mir eine zukünftige stärkere Aktivität hier auf dem Blog überlegen... ;-)

Komme ich gleich zum Kern meines heutigen Postings:
Was ich voll bescheuert finde: Bezüglich der Proteste in der Türkei gibt es mal wieder extremes Lagerdenken in Diskussionen hierzulande. Es wird einfach nicht einmal versucht den Blick vom Mars auf die Sachen hier auf der Erde zu richten. Also quasi von einem neutralen Standpunkt aus. Zumindest versuchen! meistens Fehlanzeige in sozialen Netzwerken. Sondern es wird extrem aus diversen Fan-Gruppierungen aus die Lage beurteilt. Fan? Ja, Fan. Bei Fußballfans ist oft die Ratio ausgeschaltet, Emotionen herrschen vor, man weiß oft selber nicht genau wieso. Wieso man oft bedingungslos seine Fußballmannschaft vor jeder Kritik in Schutz nimmt, gleichzeitig aber andere Fußballmannschaften bei den gleichen Vorgängen dafür heftig kritisiert. Gruppenzugehörigkeit ist wohl ein sehr, sehr starker Trieb des Menschen, der den Verstand manchmal vernebeln kann. Bei Fußballfans, sowie bei politischen Partei-Fans. Daher gehen nun die üblichen Gruppierungen aufeinander los, mit allen Übertreibungen, mit allen Pauschalisierungen, die man so kennt. Viele befinden sich dabei plötzlich in einem Boot, in dem sie sich ungern sehen möchten.


Falls jemand nicht genau weiß, was ich mit obigem meine: Wenn auf Demonstrationen, auf friedliche Demonstrationen, eisenhart seitens der Polizei eingedroschen wird, dann ist dieses Verhalten zu kritisieren, egal welcher politischen Couleur man angehört. Wenn Minderheitenrechte in der Praxis behäbig bis gar nicht umgesetzt werden, dann ist dieses auch die Verantwortung der handelnden Politiker und zu kritisieren, und zwar unabhängig davon, ob man links oder rechts steht, ob man AKP und Recep Tayyip Erdoğan Anhänger ist oder sein politischer Gegner. Es geht mir darum, dass es doch nicht so schwer sein kann, Missstände anzusprechen, unabhängig davon, wessen "Fan" man ist? Aber ebenso Lob auszusprechen, wenn Fortschritte durch eine politische Partei oder einen Ministerpräsident erzielt wurden. Also sich von seiner eigenen politischen Verortung etwas frei zu machen?
Zum Beispiel:
Ich kann doch Erdoğan dafür loben, dass er die kulturellen Rechte der Kurden etwas ausgedehnt hat, und gleichzeitig ihn dafür kritisieren, dass er in der Praxis die Folter in den Gefängnissen nicht entschieden genug bekämpft?
Ich kann doch Erdoğan dafür loben, dass er die Wirtschaft des Landes wettbewerbsfähig gemacht hat, und ihn gleichzeitig dafür kritisieren, dass er mit seinen teilweisen gigantischen Bauvorhaben, bzw. denen seiner Partei AKP, etlichen Städte ihre Seele beraubt und seine Politik der Gentrifizierung oft übertrieben ist?
Ich kann doch Erdoğan dafür loben, dass er die Macht der Militärs zurückgedrängt hat, und gleichzeitig ihn dafür kritisieren, dass er offenbar so eine Memme ist, dass er heute und gestern das Internet teilweise abstellte oder zensierte. Das geht gar nicht, Erdoğan! Oder ist die Türkei neuerdings Nordkorea, China, Iran, dass du es nötig hast, die mobile Kommunikation derart drastisch einzuschränken??? (Einer der Gründe, warum immer mehr "normale" Bürger auf die Straße gehen, die vielleicht zuvor kaum einmal demonstrieren waren, weil dieser Eingriff in die Persönlichkeitsrechte ihnen viel zu weit ging und ihnen die Weißglut in die Augen trieb.)

Ist es denn so schwer, Erdoğan einerseits zu loben, für seine Verdienste, nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch heute, selbst wenn man ihn menschlich gesehen total unsympathisch, "dörflich dümmlich", größenwahnsinnig, usw. hält? Und zwar auch dann, wenn man ansonsten niemals nie die AKP wählen würde? Andererseits, ist es denn so schwer, wenn man AKP-Anhänger/-Fan ist, die Dinge, die man ansonsten überall auf der Welt kritisiert - z.B. wenn die israelische Polizei überhart gegen (palästinensische) Demonstranten vorgeht, oder die USA gegen die Occupy Demonstrationen, usw. - ebenso auch bei dem Polizeieinsatz gegen die Gezi-Parkbesetzer anzusprechen?
Wochenlang sehe ich im Newsstream bei Facebook alle möglichen brutalen Bilder von israelischen Polizisten, die Palästinenser zusammenschlagen, ihnen Pfefferspray aus einem Meter ins Gesicht schießen, etc.und ein gleichzeitiges Wehgeschrei vieler AKP Fans (für mich auch zurecht). Wo bleibt denn dieses Wehklagen, bei genau den gleichen Bildern aus Istanbul?
Andererseits ist die andere Fraktion oft genauso auf dem anderen Auge blind. Posten nun fleißig die ganzen blutigen Bilder vom Taksim Platz, und jammern (zurecht) über diese Ungerechtigkeiten des Staates. Wo bleibt denn dieses Wehklagen, bei genau den gleichen Bildern von Demonstrationen aus Diyarbakir? Wenn ganz normale Kurden zusammengeschlagen werden?
Natürlich gibt es Schnittmengen bei obigen "Fans", worüber sie sich aufregen. Ich vereinfache etwas in diesem Artikel, um alles zu verdeutlichen.

Das Messen mit zweierlei Maß ist eine Eigenschaft, die mich an etlichen Kontakten meiner sozialer Netzwerke am meisten nervt. Es sollte doch wohl möglich sein, dass man Ungerechtigkeiten anprangert, wo auch immer diese stattfinden, unabhängig von der Partei des Auftragebers? Seine rosarote Fanbrille abnehmen?
Also einerseits zurecht die mangelnden Menschenrechte der Uiguren in Westchina anprangern, wo sich die meisten Türken oder Deutschtürken schnell einig werden, und sich dabei auf Amnesty International und Human Rights Watch beziehen.
Gleichzeitig aber bestreiten oder relativieren, wenn es um mangelnde Menschenrechte für Minderheiten in der Türkei geht, die ebenso in den Reports von Amnesty International und Human Rights Watch vorkommen. Ach ne, dann auf einmal ist Amnesty International, usw. keine glaubwürdige Quelle mehr? Aber für die Uiguren schon? Mannomann, wie ich solche Doppelstandarts ätzend finde... Dann ist keine Diskussion mehr möglich, bei solcherlei selektiver Wahrnehmung oder selektiven Maßstäben der Moral, Ethik und auch des gesunden Menschenverstands.

Abgesehen davon, kommen nun nach der gewaltsamen Niederschlagung des Protestes in der Türkei, alle möglichen Gruppen wieder zum Vorschein, die, wie ich oben erwähnte, merkwürdige Interessensüberschneidungen aufweisen, also plötzlich im selben Boot sitzen.
Da gibt es die türkischstämmigen Erdoğan-Hasser von Links, die auf einmal die gleichen Postings schreiben, wie die Erdoğa-Hasser von Rechts.
Da gibt es Aleviten, die Erdoğan aufgrund seiner Assimilierungspolitik hassen, und auf einmal befinden sie sich Seit an Seit mit den Grauen Wölfen, die Erdoğan wegen einer Islamisierungspolitik hassen. Es gibt da oft kein Maß und keine Mitte im Netz. Extreme Meinungen, extreme Bildern, erhalten immer die höchste Aufmerksamkeit, damit auch die höchste Zustimmung, und dann tritt ein Schneeballeffekt ein, bis sogar obskure Verschwörungstheorien die Runde machen.

Hinzu kommen natürlich noch die ganzen Turkophoben und Islamophoben aus der Mehrheitsgesellschaft, die sich nun mal wieder bestätigt sehen, wenn die Türkei im schlechten Licht dasteht. Dies wiederum veranlasst nicht wenige türkischstämmige Patrioten auf den sozialen Netzwerken, dagegen zu halten, sie fühlen sich dazu verpflichtet, "die Türkei zu verteidigen, ihr beizuspringen." Schon wieder fällt es dieser Fan-Gruppe sehr schwer, einfach mal Missstände zuzugeben, selbst wenn man damit den Turkophoben recht geben muss. Wieso ist das so schwer, egal woher ein Argument kommt, es einfach mal unabhängig vom Boten zu betrachten, zu beurteilen, und dann seine Meinung dazu zu äußern?

Naja, vielleicht schaffen es ja noch einige, angeregt durch meine Worte, mal etwas unabhängiger zu denken, sich zu empören, und zwar sachorientiert, statt in ihrem Fan-Dasein gefangen zu bleiben. Da jetzt gleich Fußball kommt, lasse ich den Text mal so stehen, vielleicht gibt es noch später Ergänzungen in den Kommentaren.


Einige gute Kommentare und Einordnungen zu den Ereignissen der Proteste in Istanbul und der Türkei:


Deutsche Welle:
Kommentar: Erdogans Fehlkalkulation
 

Die Straßenschlachten zwischen Demonstranten und Polizei in der Türkei haben ein besorgniserregendes Ausmaß erreicht. Ministerpräsident Erdogan sollte sie als Warnung verstehen, meint Baha Güngör. 

Tagesspiegel:
Trotz Straßenschlachten in der Türkei 
Warum Erdogan seine Kritiker nicht akzeptieren will
Es begann mit Plänen zur Errichtung eines Einkaufzentrums, mittlerweile sind Istanbuls Straßen mit Tausenden Demonstranten gefüllt. Sie akzeptieren nicht, dass Premierminister Erdogan nicht auf Andersdenkende eingehen will. Und tatsächlich hat der 59-Jährige ein Problem damit, Kritiker in Ruhe lassen.

Der Standart:
Türkei: Reizgas gegen Meinungsfreiheit 
Brutales Vorgehen der Polizei gegen Demonstranten in Istanbul
Kein Filmregisseur hätte die Szenen besser ins Bild setzen können. Polizisten feuern mit Reizgaspistolen auf tanzende Demonstranten. Einsatzwägen zielen mit Wasserwerfern brutal in die Menge.


ZEIT:
Eine Ahnung von Tahrir in Istanbul  
Premier Erdoğan lässt Proteste gegen Baumfällungen niederknüppeln. Er agiert mehr und mehr wie ein Despot, die Türken begehren auf. Von M. Thumann, Istanbul

Wer mal wissen möchte, wo fast der letzte winzige zentrale Park Istanbuls liegt:




Falls jemand denkt, wieso so ein "Aufstand wegen einiger Bäume"? Es geht inzwischen nicht nur um Bäume, und es geht vielen Demonstranten auch nicht unbedingt um eine Abrechnung mit Erdogan, wie viele AKP-Fans glauben zu wissen. Es geht vielen Demonstranten schlicht darum:
Worum geht es eigentlich? Hier aus Facebook eine Zusammenfassung.


Wer in Echtzeit auf dem Laufenden bleiben möchte, kann sich mal auf Twitter umsehen, z.B. unter dem Hashtag #occupygezi

2 Kommentare:

  1. In den bulgarischen Nachrichtensendungen hieß es heute, das türkische Studenten in Bulgarien mit Demonstrationen die Protestierenden in der Heimat unterstützen möchten. In der Heimat würde gegen den Kapitalismus protestiert. Bei uns hört man, das es um den Bau eines angeblichen Einkaufcenters ginge, das Auslöser für die Krawalle sei. Wenn jetzt auch noch durch die Protestler die Türkische Republik destabilisiert wird ist das ein sehr schlechtes Zeichen, gleich ob die Proteste zu recht oder unrecht sind.

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  2. Ich bin auch gegen eine Destabilisierung der Türkei, doch sehe ich (noch) keine Anzeichen dafür. Es könnte aber eine kleine Selbstkritik bei der AKP geben. Erdogan hört ja noch nicht einmal auf seine eigenen Parteigenossen, so hört man. Diese Beratungsresistenz könnte sich ändern, denn durch mehr Dialog und bessere Kommunikation, meinetwegen auch PR, hätte er diese Protestwelle vermeiden können.
    Das aus der ganzen Welt Solidarität bekundet wird, liegt einerseits in der falschen Einschätzung der türkischen Innenpolitik (Taksim ist nicht Tahrir), andererseits, an dem Mitgefühl überharter Polizeigewalt. Auch bei OccupyWallstreet kannten - befeuert durch die sozialen Medien .- diese Anteilnahme. Dieses Anteilnehmen finde ich gut. Solange die vernünftigen Kräfte der Demonstranten die Oberhand behalten. Momentan werden diese Proteste ja versucht zu vereinnahmen... Ich sehe schon, besser, ich schreibe noch einen Artikel... ;)

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