Dienstag, 3. Januar 2012

Debatte um den Islam - Wer bestimmt, was Muslime glauben?


Heute möchte ich auf eine interessante Probeausgabe (3/2010) der Zeitschrift zenith aufmerksam machen. Diese Zeitschrift beobachte ich schon länger, bietet sie doch mit die kenntnisreichsten Reportagen, Analysen, Hintergrundinformationen über den Nahen Osten in der deutschen Medienlandschaft. Abgesehen von Fachzeitschriften wissenschaftlicher Einrichtungen, deren Zielpublikum mitunter auch ein anderes ist. Und dieses uns übermittelte differenzierte und abseits von Tagesaktualität oft hervorragend tiefgründige Bild des Nahen Ostens kommt nicht von ungefähr: Sind doch die Redakteure Orientalisten oder angehende Orientalisten, meistens Islamwissenschaftler. Ihre im Studium erlernten Tugenden der genauen Recherche, der fundierten Quellensuche, des Blickes unter die Oberfläche, des komplexen differenzierendem Denken, der Betrachtung aus mehreren Blickwinkeln, und nicht zuletzt durch Auslandsaufenthalte erlernte soziale Kompetenz und Empathiefähigkeit, merkt man den meisten Artikeln an. Das bedeutet natürlich nicht, dass deren Qualität nicht auch schwanken kann. Doch meistens bieten die Artikel von zenith einen echten Mehrwert, verglichen mit anderen Medien, sofern dort nicht auch Orientalisten als Autoren beschäftigt sind.

Sie selbst beschreiben sich folgendermaßen:
zenith – Zeitschrift für den Orient ist das führende deutsche Magazin zum Nahen Osten, dem Maghreb und der muslimischen Welt. Kritisch, ausgewogen und kenntnisreich – diese Ansprüche stellt zenith an die eigene Berichterstattung.

Ein weltweites Netzwerk aus Autoren, Reportern und Fotografen zwischen Marokko, Israel, Iran und Indonesien, aber auch viele Korrespondenten in Europa wirken daran mit. Das Interesse an einer qualifizierten Orient-Berichterstattung ist in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Viele Medien konzentrieren sich jedoch vor allem auf Krisen und bewaffnete Konflikte: zenith ist vor Ort, bevor es knallt, und bleibt, wenn sich das Tränengas verzogen hat, um neben der großen Politik auch den Alltag der Menschen zu begleiten.

Um ein differenziertes Bild dieser Region zu vermitteln, gründeten 1999 in Hamburg sechs Studenten der Orientalistik das Magazin zenith, das inzwischen einen festen Platz am deutschen Zeitschriftenmarkt hat.

Neben Analysen, Hintergrundberichten und Top-Interviews bietet zenith starke, preisgekrönte Foto-Reportagen und Illustrationen. Die Schwerpunkt-Dossiers des Magazins beleuchten Themen des Zeitgeschehens auf unkonventionelle Art und Weise. Entscheidend für die Autoren ist die richtige Mischung aus journalistischer Aufbereitung und fachlicher Expertise. zenith versteht sich als Gradmesser für politische und soziale Entwicklung im Orient: das Magazin berichtet über diese Themen oft lange bevor sie Gegenstand der tagesaktuellen Medien werden. zenith versteht sich auch als Schmiede für junge Auslandsberichterstatter, die sich schwerpunktmäßig mit dem Nahen Osten und der islamischen Welt befassen. [...]

Täglich aktuell hingegen berichtet zenith auf www.zenithonline.de. Der gesamte Orient auf einen Klick: Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Kultur. Ein weltweites Netzwerk aus Journalisten berichtet vor Ort über die neuesten Entwicklungen und Geschehnisse.
Da ich gerade zuletzt einen Blogpost zu den neuen ethischen Fragen an den Islam durch Wissenschaft und Forschung verfasst habe, verlinke ich hier einen thematisch sehr passenden aktuellen Artikel von zenith:

Ein neues Jungfernhäutchen, bitte

Mai-Britt Wulf
Weltweit ist ein Anstieg der Hymenorrhaphie zu beobachten. Welche Motive treiben Frauen dazu, sich das Jungfernhäutchen wiederherstellen zu lassen und wie wird im Nahen und Mittleren Osten auf diese Entwicklung reagiert? [...]
Doch kommen wir nun zu dem Blogtitel und den Artikeln aus zenith, der der eigentliche Grund für meinen Post bilden. Ist doch diese Frage, wer bestimmt, was Muslime glauben gerade hochaktuell bezüglich der in Deutschland an einigen Universitäten neu geschaffenen bekenntnisorientiertem Studiengang Islamische Theologie, nach Vorbild der evangelischen und katholischen Fakultäten. Obwohl diese Ausgabe von 2010 ist, noch vor dem arabischen Frühling, zeigt sich doch die Qualität der Artikel daran, dass sie auch jenseits der Tagesaktualität interessant bleiben, Hintergründe erläutern, und einige auch ebenso heute wieder erscheinen könnten.

Kampf um den Islam

Das Ringen um Macht und Moral – eine Spurensuche von der Frühzeit des Islams bis zum radikalen Fundamentalismus heute

Los geht es mit einer Fotoserie:
Tee mit Terroristen

Wie resozialisiert man Gotteskrieger?
Saudi-Arabien versucht es im Umerziehungslager von Hayar auf die sanfte Art und Weise

Weiter geht es mit dem ersten interessanten Artikel:
Eine Religion im Belagerungszustand

Der Streit um den richtigen Glauben spaltet die Gemeinschaft der Muslime seit dem Tod des Propheten. Aber nie zuvor war die Deutungshoheit über den Koran so umkämpft wie heute. Dafür sind nicht zuletzt die westlichen Islam-Debatten verantwortlich

Der Kampf um den Islam begann am 15. März 2010. An diesem Tag weigerte sich eine Gruppe Gläubiger, die ihr auferlegten Pflichten zu erfüllen. Spannungen hatte es schon zuvor gegeben, nun trat das Zerwürfnis offen zutage. Es ging um Geld, aber auch um Macht und Ideologie; einige der Delinquenten betrachteten ihre Mission sogar als dschihad, als »heiligen Kampf«. Kurzzeitig sah es nach einem Sieg der Rebellen aus, doch dann verloren sie ausgerechnet ihren prominentesten Unterstützer. Die Auseinandersetzung führte schließlich zur Abspaltung der Gruppe, die sich einen neuen Namen gab und versprach, die ursprüngliche, ja »wahre« Mission fortzuführen. Dies zumindest kann man auf OnIslam.com nachlesen, das von der geschassten Redaktion des Internet-Portals IslamOnline.net seit kurzem betrieben wird. Zwischen den Redakteuren und ihrem damaligen Arbeitgeber war im Frühjahr ein bizarrer Machtkampf entbrannt. Die Website IslamOnline, eines der einflussreichsten Islam-Portale weltweit, gehört einer in Katar beheimateten Stiftung. Als die Inhaber die Verlagerung der redaktionellen Arbeit in das Golfemirat ankündigten und über Nacht die Passwörter wechselten, gingen die 330 Mitarbeiter in Kairo in Streik: Abgeschnitten vom Zugang zu ihrer eigenen Seite, besetzten sie ihrerseits über Wochen das Gebäude – letztlich erfolglos. [...]
Wer bis hierhin "lediglich" einen Artikel über einen lokalen Streit erwartet, der sollte weiterlesen, denn der Artikel behandelt weit mehr, wie die mitunter durchaus provokativen Zwischenüberschriften und Einschübe verdeutlichen:
  • 14 Jahrhunderte nach Muhammads Tod wirkt die Gemeinschaft der Muslime gespalten und führungslos
  • Es ist die zentrale Frage in einem Machtkampf um Glauben und Sünde: Wann hört ein Muslim auf, Muslim zu sein?
  • Wer bestimmt auf Dauer, was die mehr als eine Milliarde Muslime auf der Welt glauben sollen?
  • Ist der Kalif Uthman zu Recht getötet worden?
  • Verspätete Medienrevolution in der arabischen Welt
  • Selbst wie man einen Dschihad zu führen hat, ist unter Radikalen inzwischen umstritten
  • Die Schiiten – eine »lauernde Schlange«
  • Was Islam bedeutet, kann heute nicht mehr ohne den Westen diskutiert werden
  • Europa fungiert als Zerrspiegel für den Islam
Ihr seht schon, alleine diese Zwischentitel machen Lust den Artikel zu lesen...

Weiter geht es mit einem Interview eines der weltweit bedeutendsten Kenner der islamischen Theologie. Hoch aufschlussreich:
»Der Koran ist eine reformatorische Schrift«

Wann wurde der Islam zum Islam? Der Orientalist Josef van Ess im zenith-Gespräch über Prophetengenossen, verrückte Gnostiker und die Gebetsgymnastik der frühen Muslime

zenith: Herr van Ess, seit wann gibt es den Islam?
Josef van Ess: Diese Frage ist überhaupt nicht zu beantworten. Zumal man ja schon unterschiedlicher Meinung darüber ist, seit wann es den Koran gibt. Eines ist klar: Als es den Koran gab, gab es noch lange nicht den Islam.
zenith: Wie ist das zu verstehen?
Josef van Ess: Eine Religion braucht Generationen, bis sie weiß, warum sie da ist. Als Offenbarungsreligion hat der Islam bestimmte Grundvoraussetzungen: ein Gottesbild und die Notwendigkeit eines Stifters etwa. Aus diesen Voraussetzungen folgen Optionen. Und dann müssen Entscheidungen gefällt werden – was Zeit braucht, zum Teil Jahrhunderte.Durch diese Entscheidungen wird der Entscheidungsspielraum immer weiter eingegrenzt – sozusagen eine natürliche Erstarrung, die es bei allen Religionen gibt.
zenith: Häufig heißt es, der Islam brauche eine Reformation – einen »islamischen Luther«, um die Erstarrung aufzuhalten.
Josef van Ess: Ach, das ist doch ein alter Hut. Der Gedanke taucht schon im späten 19. Jahrhundert auf, und man hört es auch jetzt immer wieder. Dahinter steht der etwas amorphe Wunsch nach Reform, weil man mit der Gegenwart unzufrieden ist.Dabei ist schon der Koran eine reformatorische Schrift – insofern, als die älteren Religionen als Irrwege abgetan werden. Was natürlich eine Illusion ist: Der Koran ist nie zu den Anfängen zurückgekehrt. Aber dahinter steht vermutlich eine historische Erfahrung: Die Zeitgenossen des Propheten erlebten das Christentum nicht als einheitliche Religion, sondern als drei verschiedene »Kirchen«, die sich wüst beschimpften.
[...]
zenith: Sie zeichnen ein fast schon atomistisches Bild vom Islam.
Josef van Ess: Oder ich stelle das gängige Bild auf den Kopf. Die Pluralität steht am Anfang, die Einheit kommt später. Ein Fundamentalist würde es genau umgekehrt sehen. [...]
Zwischen den Artikeln kommen 18 höchst unterschiedliche Muslime zu Wort um zu definieren, was für sie "der Islam" sei.

Dann folgt eine Reportage über einen der einflussreichsten Muslime weltweit - aufgrund seiner Reichweite als Satelliten-TV-Prediger. Ich bin zwar nicht der Meinung, dass dieser Mann den größten Vorsprung einer Deutungshoheit hätte, doch gehört er sicherlich zu den einflussreichsten. Lest selber:

Yussufs Welt

Im Wettlauf um die Deutungshoheit im Islam führt ein 83-Jähriger mit großem Vorsprung. Der Erfolg der Marke Qaradawi hat viel mit Produktionsabläufen moderner Medien zu tun. Aber steht der Mann noch für etwas anderes als für sich selbst?

Von Daniel Gerlach

Scheich Yussuf al-Qaradawi wohnt in einem vornehmen Anwesen. Für einen katholischen Bischof oder gar den Papst wäre seine Stadtvilla an einer dunklen Ausfallstraße in Doha im Emirat Katar allerdings eher bescheiden. Der sunnitische Islam kennt zwar keine Kirchenämter, aber Qaradawis Einfluss auf die islamische Welt hat Experten schon dazu veranlasst, ihn mit den allerhöchsten Vertretern des Katholizismus zu vergleichen – eine »Ein-Mann-Glaubenskongregation« nannte ein Beobachter des islamischen Medienbetriebs den Scheich, der beinahe wöchentlich in der Prime Time des Satellitensenders Aljazeera auftritt.

Für manche ein Hetzer, für andere ein Laissez-Faire-Scheich

Was ein 83-Jähriger, über dessen Leidenschaften außer Büchern über den Islam kaum etwas bekannt ist, in einer dreigeschossigen Villa tut, bleibt sein Geheimnis – Besucher empfängt Qaradawi nach arabischer Sitte in einem Raum im Erdgeschoss mit Neon-Lampen und komfortablen, im Rechteck angeordneten Sitzmöbeln in orientalischem Barock. Wie fast jeden Sonntagabend wartet dort bereits Motaz al-Khateeb, Redakteur der Sendung »Al-Scharia wa-l-Hayat – Die Scharia und das Leben«. Die beiden Männer steigen nach einer kurzen Begrüßung in Qaradawis schwarze Mercedes-Limousine. Es ist 21 Uhr, in etwa einer Stunde beginnt die Sendung. Wie denn das Thema laute, fragt Qaradawi seinen Redakteur. Die Antwort: »Fatwas und die Politik«. Qaradawi ist zufrieden – das Thema sagt ihm zu. Vor vier Jahren, als die erfolgreichste Islam-Sendung der Welt ihr zehnjähriges Jubiläum feierte, hatte Qaradawi einmal mit der Faust auf den Tisch gehauen und gerufen, er habe es satt, über die Kleinigkeiten des Lebens zu reden, wenn es doch so viele große Themen zu besprechen gebe. [...]
Nun folgt ein Bericht aus dem Iran, der wahrscheinlich langfristig größere Auswirkungen haben könnte, als die nun (mal wieder) angespannte Lage mit dem iranischen Atomprogramm, doch kaum jemand nimmt davon Notiz im Westen:
Neue Mullahs braucht das Land

In den vergangenen zwölf Monaten verlor der schiitische Islam zwei seiner wichtigsten Vordenker: Muhammad Hussein Fadlallah und Hossein-Ali Montazeri waren die Anführer einer ganzen Generation von Gelehrten. Wer wird nach ihnen in die höchsten Ränge der Geistlichkeit aufsteigen?

Von Christoph Sydow und Robert Chatterjee
Einen solchen Trauerzug hatten Beiruts Vorstädte noch nicht gesehen: Hunderttausende drängten sich um den Sarg; Männer, Frauen und Kinder trugen das Konterfei des verstorbenen Großayatollahs Muhammad Hussein Fadlallah durch die Straßen. Mit Fadlallah verlor die arabische Welt Anfang Juli einen der wichtigsten schiitischen Geistlichen. Der 83-Jährige war ein so genannter Mardscha-e Taqlid – eine »Quelle der Nachahmung«, an der sich Millionen Gläubige orientierten. Der Mardscha steht an der Spitze der schiitischen Geistlichkeit: Er wird nicht gewählt, sondern erreicht seine Position durch die Anerkennung seiner Anhänger. Gegenwärtig gibt es weltweit etwa 60 schiitische Geistliche im Rang eines Mardschas. Wer in dieser Konkurrenz bestehen will,muss für alle Fragen des täglichen Lebens ein offenes Ohr und die passenden Antworten haben. Spätestens mit der Islamischen Revolution von 1979 wurde eine weiterer Aspekt deutlich: Der Einfluss der Religionsgelehrten ist auch politisch relevant. Ruhollah Khomeini beanspruchte im Iran nicht nur die politische Führerschaft für sich, er forderte auch das geistliche Monopol über sämtliche Schiiten ein. Die Gesellschaft formen, sich im öffentlichen Leben einbringen – das wollten aber viele von Khomeinis Zeitgenossen. [...]

Dann ein Artikel über ein Land, welches in der hiesigen Medienlandschaft wie ein weißer Fleck behandelt wird, obwohl es das Land mit den meisten Muslimen ist: Indonesien:
Schariarote Lollipop-Welt mit Schattenseiten

Der indonesische Islam gilt als moderat und asiatisch verspielt. Doch hinter den Kulissen hat der Druck, sich fromm und gottesfürchtig zu zeigen, stark zugenommen. Fundamentalisten geben den Ton an – die liberale Mehrheit schweigt

Erfolgreiche Bestsellerautorin, vorbildliche Ehegattin und Mutter – und strenggläubige Muslimin: Die Asma Nadia steht für ein neues gesellschaftliches Ideal in Indonesien. Ihre trivial-religiösen Lebenshilferatgeber wie »Sei keine nervige Muslimin« behandeln Alltagsprobleme wie Mundgeruch, Pickel und freundliches Konversationsverhalten. Mit ihrem optimistischen Selbstbewusstsein verkörpert die 38-jährige Nadia beispielhaft das Gesicht des indonesischen Islams zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Das öffentliche Leben ist sichtbar »islamischer« geworden, das traditionell in Indonesien kaum verbreitete Kopftuch hat längst seine provozierende Wirkung verloren und ist ein aus dem Alltag nicht mehr wegzudenkendes Accessoire einer neuen muslimisch-korrekten Selbstverständlichkeit. Doch die Scharia-konforme Lebensgestaltung wird nicht nur von einem explizit modern und global ausgerichteten Selbstverständnis getragen, sie verbindet sich auch problemlos mit asiatischer Verspieltheit. Genau wie ihre säkularen Schwestern inszenieren sich die verschleierten jungen Mädchen mithilfe ihrer Handy-Kameras gern ausgesprochen kokett und verführerisch – eifrige Adeptinnen nicht nur einer literalistischen Islam-Auslegung, sondern auch des kindlich-selbstverliebten Stils ostasiatischer Popkultur. Bücher und Zeitschriften für gläubige junge Leserinnen werben für eine kunterbunte Lollipop-Welt. Scharia als rosaroter Mädchen-Lifestyle. [...]

Ein kleiner Seitenblick auf jüngere Zeitgeschichte? Bitte schön:
Von wegen Einheit!

Khomeinis Traum vom islamischen Revolutionsexport ist gescheitert – dabei konnte der Führer der Schiiten im Iran auch arabische Sunniten für seine Ideologie begeistern

Das Projekt ehrgeizig zu nennen, wäre untertrieben. Ruhollah Musavi Khomeini verkündete, die Einheit von Sunniten und Schiiten herbeiführen zu wollen – und ein 1400 Jahre altes Schisma zu überwinden. In der »Islamischen Revolution« von 1979 sollte sie ihren Anfang nehmen, im Kampf gegen die USA und Israel ihre große Klammer finden. Denn die Teilung der Muslime in zwei große Konfessionen bot Feinden nach Khomeinis Auffassung eine willkommene Angriffsfläche. So erstaunt es nicht, dass er zu dem Schluss kam, eigentlich gebe es überhaupt keine Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten. Das erschien vielen Nachbarländern des Iran wie eine Kampfansage. Nicht nur die sunnitischen Monarchien am Persischen Golf, auch die nationalistischen Regimes in Ägypten, Syrien und Irak sahen sich herausgefordert, denn der »Oberste Rechtsgelehrte« propagierte sein Herrschaftssystem als Vorbild. Unter dem Schlagwort »Revolutionsexport« säte er in den Folgejahren Keime des Umsturzes auch in den Nachbarländern. [...]
Will man die Gegenwart besser verstehen, sollte auch immer ein Blick in die Geschichte gewagt werden, so auch hier in einem interessantem Artikel, der auch ein wenig den Gründer der eher konservativeren Rechtsschule der Hanbaliten beleuchtet:
Mit teuflischen Zungen

Der Abbasidenkalif al-Ma’mun, Sohn des großen Harun al-Raschid, förderte Philosophie und Wissenschaften – und setzte gegen religiöse Gelehrte eine Inquisition in Gang. Auch der Gründer einer strengen Rechtsschule geriet in deren Mühlen

Waren es 30, 38 oder gar 68 Hiebe, die Ahmad Ibn Hanbal trafen? Die Quellen sind sich uneinig darin.Wie auch immer: Diese Erfahrung muss fürchterlich gewesen sein.
Ibn Hanbal lebte zu Beginn des 9. Jahrhunderts in Bagdad, der glanzvollen Metropole der abbasidischen Kalifen. In den wenigen Jahrzehnten seit der Gründung 762 war die »Stadt des Friedens« zu einer der größten der Welt gewachsen. Menschen aus aller Herren Länder lebten hier,Waren aus allen Teilen der Welt füllten Märkte und Lager. Die Religionen gaben sich ein Stelldichein. Vor allem die Wissenschaften wurden vom Kalifen al-Ma’mun, einem Sohn Harun al-Raschids, gefördert: Im »Haus der Weisheit« trafen sich die berühmtesten Gelehrten ihrer Zeit. Unter ihnen waren der Mathematiker al-Khwarizmi, der die Algebra neu erfand, und der Philosoph al-Kindi, der erste der islamischen Aristoteliker. Dschahiz, der freisinnige Literat, verfasste hier seine Werke. Dazu setzte eine umfangreiche Übersetzungstätigkeit ein: Griechische, persische und indische Quellen wurden ins Arabische übertragen und fortentwickelt. Dass man hinter das chinesische Geheimnis der Papierherstellung gekommen war, ließ einen regen Buchhandel entstehen. [...]
Dann werden anhand von vier Beispielen Staaten gezeigt, wo sich "Frontverläufe" der Religion und Politik darstellen lassen. (Übrigens finde ich die doch etwas "martialische" Sprachwahl einiger Überschriften nicht immer so glücklich oder als erste Wahl. Aufmerksamkeit kann man auch anders erhaschen, und diese Sprachwahl passt doch eher zur Springer-Presse...)
Frontverläufe

Wo um den Islam gerungen wird, ist die Politik nicht fern. Theokratien behaupten, gottgewollte Herrschaft zu verkörpern, aber selbst säkulare Staaten mischen sich in religiöse Angelegenheiten ein. Vier Beispiele
Die Beispiel kommen aus Marokko, Türkei, Saudi-Arabien und Usbekistan.

Der letzte Artikel beleuchtet nochmal die schon teilweise angesprochene mediale Welle der Fernsehprediger, der "Laien"-Imame, und das Gezerre um die Deutungshoheit der Auslegung des Islams:
Invasion der Prediger

Der Wettstreit religiöser Meinungsmacher wird in Ägypten vor allem im Fernsehen ausgetragen. Laien erlassen Fatwas und machen damit traditionellen Rechtsgelehrten Konkurrenz. Die ägyptische Regierung lässt sie gewähren – nicht ohne politische Hintergedanken

Von Carola Richter
»Bete! Bete! Bete!«, presst der Prediger mit dem grauen Vollbart immer wieder zwischen den zu einem verkniffenen Lächeln gekräuselten Lippen hervor. Schweißperlen stehen auf seiner Stirn. Inbrünstig sendet er seine Botschaft hinaus in den Orbit und von dort zurück nach Ägypten und in die übrige arabische Welt. Von demselben Satelliten kommen die Wellen von über einem Dutzend weiterer Islam-Sender, in denen Prediger heiser schreien oder geheimnisvoll flüstern, Frauen kompetent Fatwas erteilen oder komplett im Programm fehlen, traditionell gewandete Scheichs mit hennaroten Bärten oder junge Männer in Anzügen auftreten und islamische Musikvideos anmoderieren. In Ägypten manifestiert sich vor den Augen der Zuschauer eine Auseinandersetzung um den Islam und seine Auslegung, die so gar nichts mehr mit den Zeiten obrigkeitsstaatlicher Religionsvermittlung zu tun zu haben scheint. Als das Satellitenfernsehen Ende der 1990er Jahre seinen ersten Boom in der Region erlebte, gründete der saudische Geschäftsmann Salah Kamel einen religiösen Sender namens Iqra’ – zu Deutsch: »Lies!« Iqra’ fungierte als Initialzündung für den Ausbau privater islamischer Medien. Bis dahin war die Verbreitung des Islams im Wesentlichen eine staatlich sanktionierte Angelegenheit, die zwar durchaus in den Medien stattfand, aber von einem sehr traditionellen Stil geprägt war. [...]

Zum Schluss noch ein kleines Schmankerl, was mit einem Augenzwinkern geschrieben wurde, und man es daher nicht zu ernst nehmen sollte. Einerseits werden alle Leser meines Blogs dieses Vokabular schon zur Genüge kennen, nicht zuletzt durch die Artikelserie Feindbild Islam, andererseits könnte ich mir durchaus vorstellen, dass für Islam-Debattenanfänger doch einen Blick über den Tellerrand nicht schaden könnte.


ENDLICH MITREDEN: LEXIKON FÜR DIE ISLAMDEBATTE

GLOSSAR DER ISLAMKLISCHEES (ISLAMVERSTEHER)
Von Aufklärung ...
Die Debatte über den Islam in Europa entzündet sich immer wieder an Schlagworten.
Dabei geraten Islamversteher und -kritiker oft heftig aneinander ...

GLOSSAR DER ISLAMKLISCHEES (ISLAMKRITIKER)
... bis Zwangsehe
... weil sie zwar dieselbe Sprache sprechen, aber unter bestimmten Wörtern
ganz Unterschiedliches verstehen. Eine Übersetzungshilfe

Ich kann mir gut vorstellen, dass nach diesen hier zitierten Appetithappen Lust auf mehr geweckt wurde:

Hier ist der Downloadlink des Heftes. 

Wenn euch einige Artikel gefallen haben, denkt vielleicht nächstes mal an den Kauf eines Heftes, um diese wichtige mediale Stimme zu unterstützen, und schaut auch ruhig öfters auf deren Internetseite vorbei. Ich sehe zum Beispiel in meinem Datenstrom auf Facebook oder Google Plus doch recht wenige Verlinkungen zu Inhalten der Onlinepräsenz. Vielleicht legt ihr ja nun diese Seite in euren Lesezeichen des Browsers ab?

(Bildquelle: Wikimedia Commons)

5 Kommentare:

  1. Ist das ganze so überraschend?
    Die Frage was Christen glauben kann man doch nur ähnlich amorph oder auch garnicht beantworten. Historisch gibt es eine christliche Dogmatik erst seit dem 4. Jahrhundert n. Chr. Bei einigen Nichtchristen kursiert daher ja auch die Meninung, dass Jesus erst seit dem Konzil von Nicäa als Gottessohn angesehen wird., was natürlich Unsinn ist. Selbst der Papst ist in seiner dogmatischen Unfehlbarkeit (auch erst seit dem ersten Vaticanum) nicht unumschränkt.
    Ich erinnere mich immer gerne an mein Graduiertenkolleg (Thema: Religiöse und soziale Transformationsprozesse in Deutschland (14.- 17. Jahrhundert). Die Teilnehmer mussten auch einmal im Monat an einem Diskussionsforum teilnehmen, in dessen Rahmen namhafte Forscher ein "Streit-Gespräch" führten. Richtigen Streit gab es immer nur, wenn sich zwei evangelische Kirchenhistoriker über Luther austauschten...

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  2. Nein, in der islamischen Welt ist das kein Wunder. Es ist sogar eher selbstverständlich, dass noch mehr als bei einer durch Dogmen bestimmten Religion, wo dadurch Verbindlichkeiten geschaffen wurden, eine sehr große Pluralität vorherrscht. (Thomas Bauer (siehe Blogpost) nennt dieses auch Ambiguität)).
    Welt es eben keine letzte Instanz gibt, die bestimmt, wie es nun zu laufen habe. Es gibt nur einen gewissen Konsens, z.B. wenn jemand besonders viel Wissen ansammelt, und besonders stringent argumentieren kann, dann versammeln sich viele Gläubige um dessen Interpretation des Glaubens. Dies kann je nach Jahrhundert ganz unterschiedlich ausfallen. Es gab zwar Phasen in der islamischen Geschichte, wo z.B. der Kalif ein Dogma (auch gewaltsam) durchdrücken wollte (das Mutazilitentum), aber das war nicht von Erfolg gekrönt.

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  3. @Lynxxx
    das Christentum ist keine von Dogmen bestimmte Religion, dazu ist es viel zu ambiguit ( um Herrn Bauer zu folgen)
    Lehrautorität besassen in der Antike und im Mittelalter Leute wie Augustin, Hieronymus, Bernhard von Clairvaux, Thomas von Aquin, Franz von Assisi etc., die sich in in der Sache auskannten und aLS VORBILDLICHE christlcihe Denker und Persönlichkeiten betrachtet wurden. Die orthodoxen Kirchen haben hier nochmal ihre eigene Geschichte.
    In der Neuzeit wird es dann mit dem Protestantismus vollkommen Ambuigitisch.

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  4. oder wenn Sie in neuerer Zeit nach christlcihen Denkern suchen, die religiöse Autorität besitzen (ich beschränke mich mal auf Protestanten:
    Karl Barth
    Dietrich Bonhöffer
    Martin Luther King.

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  5. Das stimmt. Als ich meinen Kommentar schrieb, dachte ich auch eher an eine der am meisten verbreiteten Richtungen des Christentums, den Katholizismus, der doch auf Konzilen mittels Dogmen den Richtungsstreitigkeiten Einhalt gebot und verbindliche Glaubenslehren durchsetzte, die nicht zuletzt dazu führten, dass abweichende Auffassungen, z.B. der Arianer, Katharer; Nestorianer, Donatisten, usw. zurückgedrängt wurden, durchaus auch mal gewaltsam.

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