Montag, 19. September 2011

Mustafa Kemal Atatürk - 2. Teil

Besuch Atatürks in der juristischen Fakultät der Istanbuler Universität 1930

Hier nun der zweite Teil von Informationen über Mustafa Kemal Atatürk. Den ersten Teil kann man hier nachlesen:

Mustafa Kemal Atatürk - 1. Teil


Säkularisierung und „Modernisierung“

1925 werden die Schreine (tü. türbe) und die Derwisch-Häuser (tü. tekke) geschlossen, die Derwisch-Organisationen werden verboten. Dies geschah im Anschluss an einen sowohl religiös als auch ethnisch motivierten Aufstand im Osten (Raum Diyarbakır) unter Führung des Nakşibendi-Scheichs Sait, an dem außer dessen Gefolgsleuten auch nationalistisch gestimmte Kurden teilnahmen. Der Aufstand wurde innerhalb weniger Wochen niedergeschlagen.

1925 wird der Fez verboten; Turban darf nur noch von dafür zuständigen Personen in dafür vorgesehenen Räumlichkeiten getragen werden (Moschee). Fez und Turban waren in bestimmten Kreisen, vor allem der Armee, bereits außer Mode gekommen, und wichtiger für den Alltag war vielleicht die Bestimmung, man solle den Hut in Innenräumen abnehmen.
Diese Maßnahme sollte – ähnlich wie Kleidervorschriften in der Tanzimat-Periode – zu einer „Entorientalisierung“ führen, es gab weitere Vorschriften mit ähnlicher Zielsetzung. Eine gezielte und staatlich gelenkte „Entschleierung“ von Frauen hat es in der Türkei nie gegeben, und es hat auch nie ein Verbot gegeben, in der Öffentlichkeit den Schleier (in welcher Form auch immer) zu tragen; verboten ist „nur“ das Tragen entsprechender Kleidungsstücke im Öffentlichen Dienst, wozu auch der Schulbesuch und das Studium an Universitäten gehört.
1935 wird der Sonntag als wöchentlicher Feiertag eingeführt; vorher war das der Freitag. Zur Säkularisierung im weiteren Sinn gehören auch die Einführung der europäischen Uhrzeit, der lateinschriftlichen „arabischen“ Zahlen 1928 und „europäischer“ Maße und Gewichte 1931 (Meter, Gramm, Sekunde als zentrale Maßeinheiten).
1926 wird der europäische Kalender eingeführt. Gleichzeitig werden Reformen im Rechtssystem durchgesetzt: Man übernimmt den Code civil der Schweiz und das Strafgesetzbuch aus Italien. Mit der Übernahme des Code civil aus der Schweiz und dem Strafgesetzbuch aus Italien verlieren die islamischen Gelehrten eine wichtige Domäne, die letzte, die sie noch hatten (außer dem Gottesdienst selbst), nämlich die Verwaltung von Familienrecht: Ehe, Scheidung, Erbschaft, und damit auch eine zentrale Einnahmequelle. Gegenüber der Vorkriegs-Politik ist neu: die Säkularisierung des Familienrechts und die Maßnahmen zur Unterdrückung der Derwisch-Vereinigungen. Das Verbot dieser Gruppen gilt bis heute, wird aber vielfältig umgangen.

Kontrolle über die Zivilgesellschaft

Ab Mitte der 20er Jahre werden alle Vereinigungen verboten und geschlossen, die sich nicht unbedingt dem Diktat der CHP und ihrer Leitung unterwerfen, sie werden durch parteinahe Organisationen ersetzt. Das betrifft die Kulturvereinigung und die Frauenrechtlerinnen. 1925 wird die Presse an die kurze Leine genommen. Keine oppositionellen Blätter sind mehr erlaubt, mit einer einzigen Ausnahme (Yarın), dieses Blatt wird 1931 geschlossen. 1933 wird die alte Istanbuler Universität Darülfünun geschlossen und als İstanbul Üniversitesi neu gegründet. Bei dieser Gelegenheit findet die erste massive Säuberung des akademischen Lehrkörpers statt, ca. zwei Drittel der Lehrenden werden entlassen und nur das zuverlässigste Drittel bleibt im Amt.
Im Bereich der Kontrolle über das religiöse Leben werden 1924 bereits die zuständigen Ämter geschaffen: Eines zur Kontrolle der religiösen Bediensteten unter der Bezeichnung Diyanet Işleri Müdürlüğü, eines zur Kontrolle der Stiftungen Evkaf Umum Müdürlüğü. Hier zeigt sich, dass im Kemalismus „Laizismus“ nicht unbedingt die vollständige Trennung von Staat und religiöser Professionalität meint, sondern eben auch staatliche Kontrolle über das religiöse Leben.

Sprach- und Schriftreform

Einführung des lateinischen Alphabets (als „türkische Schrift“). 1926 waren die Turksprachen der Sowjetunion auf Lateinalphabet (mit Modifikationen) umgestellt worden. Auch für das Türkei-Türkisch hatte es schon früher Bestrebungen gegeben, die Schrift grundlegend zu reformieren, wobei man zwischen einer Reform des arabischen Alphabets und einer Umstellung auf Lateinschrift schwankte. Die Umstellung des Azeri-Türkischen auf Lateinschrift war ein wichtiger Beweggrund, diesen Weg einzuschlagen.
Das Schriftreformgesetz wurde am 1.11.1928 verkündet, und ab 1.1.1929 war die Nutzung des neuen Alphabets obligatorisch.

Karte:
Die Aufteilung des Osmanischen Reiches


Karte:
Das Osmanische Reich zwischen 1914 und 1920


Karte:
Verlauf militärischer Auseinandersetzungen in Kleinasien

aus:
Ergebnisse des Ersten Weltkriegs



4.

Kemal Atatürk


Der Sieg Atatürks

Nach seinem Amtsantritt im Juli 1918 trennte sich der neue Sultan Mehmed VI. Wahideddin von seinem Großwesir Tevfik Pascha und berief Damad Ferid Pascha, einen Repräsentanten der liberalen und dezentralistischen Kräfte, an die Spitze des Kabinetts. Dessen Politik richtete sich an der Erhaltung der Vorrechte des Hauses Osman aus und nahm dafür einen Ausgleich mit britischen Vormachtsinteressen in Kauf. Da die neue Regierung bei anhaltenden Unruhen eine direkte Intervention der Entente befürchtete, erteilte sie dem politisch ehrgeizigen, aber regierungskritisch eingestellten General Mustafa Kemal Pascha den Auftrag, im Schwarzmeerraum griechische und türkische »Banden« aufzulösen.

In der Zwischenzeit hatten griechische Truppen infolge eines Beschlusses der Pariser Friedenskonferenz die Stadt Izmir und ihr Hinterland besetzt. Das von der britischen Regierung unter Premierminister David Lloyd George gedeckte griechische Vorgehen entfachte den türkischen Widerstand in Anatolien. Die griechische Besatzungsarmee begnügte sich dort nicht mit der Entwaffnung der türkischen Bevölkerung, sondern verteilte darüber hinaus Waffen an die anatolischen Griechen, die sich nach einem Aufruf ihres Patriarchen aus der osmanischen Staatsbürgerschaft »entlassen« sahen. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung versammelten sich am 23. Mai 1919 zahlreiche Türken auf dem Sultan-Ahmed-Platz in Istanbul zu einer Protestkundgebung.

In Nordanatolien angekommen, nahm Mustafa Kemal Pascha Verbindung mit hohen Befehlshabern und Verwaltungsbeamten auf. Von Amasya aus sandte er erste Erklärungen ins Land: Die Regierung in Istanbul sei unfähig, die territoriale Einheit und Unabhängigkeit des Landes zu wahren. In einem geheim gehaltenen Artikel seines Rundschreibens untersagte er die Auflösung von Heeresformationen und entzog sie damit der Befehlsgewalt Istanbuls. Aus Istanbuler Depots wurden Waffen und Munition nach Anatolien geschmuggelt. Auf den beiden Kongressen in Erzurum und Sivas (Juli und September 1919) bemühte sich die kleine Gruppe militärischer Führer in Anatolien um eine breitere Legitimierung ihres Handelns. Der Kongress in Sivas konstituierte sich als »Nationale Versammlung«, auch wenn nur etwa 30 Delegierte an ihm teilnahmen. Dem politischen Geschick Kemal Paschas gelang es in dieser Zeit, Militärs - die im Osten den Ton angaben -, lokale Notabeln - im ägäischen Raum dominierend - und religiöse Amtsträger - Ulema und Derwischscheiche - zusammenzufassen und den Widerstand gegen äußere (Entente, Griechen) und innere Feinde (Sultansregierung) zu koordinieren. Der Kongress von Sivas schuf die »Nationalen Streitkräfte« und damit ein machtpolitisches Gegengewicht zu Istanbul.

Nach Wahlen gegen Ende 1919 trat am 12. Januar 1920 in Istanbul ein neues osmanisches Parlament zusammen, das - von der Einheit der osmanischen Länder in ihrem Vorkriegsbestand ausgehend - am 20. Januar 1920 einen »Nationalpakt« verabschiedete, die Gleichberechtigung der Muslime in den Nachbarländern mit den Minderheiten auf türkischem Boden forderte und sich bereit erklärte, die osmanischen Staatsschulden anteilig zu zahlen. Unter verstärktem Druck auf die Sultansregierung gingen die Ententemächte am 16. März 1920 von der symbolischen zur tatsächlichen Besetzung Istanbuls über. Unter dem Eindruck dieser Vorgänge in Istanbul versammelte sich am 23. April 1920 in Ankara unter der Präsidentschaft Kemal Paschas eine »Große Türkische Nationalversammlung«. Bei deren Konstituierung wurde zum ersten Mal der Ländername »Türkei« verwendet. Kurz zuvor hatte die Sultansregierung unter dem Großwesir Ferid Pascha ein Gutachten, ein Fetwa, des Scheichülislam Dürris ade Abdullah Efendi veranlasst, das die Nationalbewegung unter Kemal Pascha als Aufstand gegen das Kalifat wertete und alle Beteiligten zu Ungläubigen erklärte. Der Mufti von Ankara veröffentlichte ein Gegen-Fetwa zugunsten der Nationalisten.


Der Nationalstaat

Im gewaltsamen Vorgriff auf das ihm zugestandene Gebiet im westlichen Anatolien schritt Griechenland am 22. Juni 1920 zum Angriff auf dieses Gebiet. In den zwei Schlachten von Inönü bei Eskisehir konnte Oberst Ismet, später Ismet Inönü, die griechische Invasionsarmee aufhalten. Die Signalwirkung dieses Sieges war erheblich. Italien und Frankreich zogen sich aus einem Teil ihrer »Einflussgebiete« zurück. Im östlichen Vorfeld Anatoliens zwang General Kasim Karabekir im Abkommen von Gümrü/Alexandropol die junge armenische Republik, auf die ihr im Vertrag von Sèvres zugesagte Unabhängigkeit zu verzichten (2./3. Dezember 1920). Die Regierung in Ankara gewann zunehmend außenpolitische Bewegungsfreiheit. Der Vertrag von Moskau mit der Sowjetunion (16. März 1921) war das erste von Ankara abgeschlossene internationale Abkommen.

Unter dem Oberbefehl Mustafa Kemals konnten die nationaltürkischen Truppen in der entscheidenden Schlacht am Sakarya (10. Juli 1921) den griechischen Vormarsch nach Ankara stoppen. Nach einjährigem Stellungskrieg in Westanatolien konnten sie die Griechen in der Schlacht von Dumlupnar bei Afyon am 30. August 1922 endgültig schlagen und sie bis Izmir verfolgen. Im Oktober 1922 wurde in Mudanya ein Waffenstillstand geschlossen. Großbritannien musste sich mit dem Ergebnis abfinden, weil Frankreich jetzt eigene Wege beschritt.

Nach langen und zähen Verhandlungen kam am 24. Juli 1923 das umfangreiche Vertragswerk von Lausanne zustande. Die Türkei erreichte wieder ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit. In einem Nebenvertrag wurde der Austausch der muslimischen Bevölkerung Griechenlands mit den griechischen Bewohnern der Türkei beschlossen. Die Muslime West-Thrakiens und die griechischen Bewohner Istanbuls durften bleiben. Nicht verschont wurden die türkischsprachigen Orthodoxen und die griechischsprachigen Muslime der jeweiligen Staaten. Der Austausch betraf etwa 1,25 Millionen Griechen und 0,4 Millionen Türken.


Wiederaufbau und Reform

Am 1. November beschloss die »Große Türkische Nationalversammlung«, das Amt des Kalifats vom Sultanat zu trennen. Mehmed VI. Wahideddin, der 36. osmanische Sultan, verließ daraufhin am 17. November mit seiner Familie auf einem britischen Kriegsschiff Istanbul. Abd ül-Medjid, der Kronprinz, wurde als Kalif von Ankaras Gnaden eingesetzt, jedoch wenig später abgesetzt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte das Schicksal der Türkei in den Händen einer provisorischen, von der Nationalversammlung »bevollmächtigten« Regierung unter Mustafa Kemal gelegen. Mit der Flucht des Sultans war der Weg frei zur Gründung der Republik, nachdem schon am 13. Oktober 1923 Ankara zur Hauptstadt erklärt worden war. Ein entscheidender Schachzug Mustafa Kemals war die Unterdrückung der Opposition in der Nationalversammlung. Nach »Neuwahlen« im Sommer 1923 bestand das Parlament überwiegend aus seinen Gefolgsleuten. Mit der Umwandlung der »Vereinigung für die Verteidigung der Nationalen Rechte in Anatolien und Rumelien« in eine »Republikanische Volkspartei« erreichte er eine solide Machtbasis.

In den vorausgegangenen Kriegen war die anatolische Bevölkerung um 28 Prozent gesunken, insgesamt hatten 2,5 Millionen anatolische Muslime ihr Leben verloren. Die Opfer unter den Armeniern werden auf mindestens 0,6-0,8 Millionen Menschen beziffert, die der Griechen auf 0,3 Millionen. Der Westen Anatoliens war im Zuge des griechischen Vormarsches und Rückzuges stark zerstört worden. Städte wie Bilecik, Yenisehir, Inegöl, Afyon, Sögüt und Adapazar waren vollständig abgebrannt. Zu den wichtigsten politischen Maßnahmen der Regierung gehörte die Aufhebung des Zehnten, der Naturalsteuer, die der bäuerlichen Bevölkerung jahrhundertelang auferlegt worden war und fast 30 Prozent der Staatseinnahmen ausmachte (1925). Die junge Republik leitete eine begrenzt erfolgreiche Autarkiepolitik ein. Der Verfall der Agrarpreise in der Weltwirtschaftskrise (1928/29) bedeutete einen erheblichen Einbruch. Erst um 1930 wurde das Lebensniveau der Vorkriegszeit wieder erreicht. Ein erster Fünfjahrplan (1934-38) trug die Handschrift sowjetischer Berater.

Für Mustafa Kemal war eine ganz offensichtlich gegen islamische Institutionen gerichtete Kulturrevolution der Kern seines Programms. Die Wirksamkeit dieser Politik wird sichtbar, wenn man bedenkt, dass die atatürkschen Reformen als unveränderliche Bestandteile in alle jüngeren türkischen Verfassungen (zuletzt 1982) aufgenommen wurden. Mit der Aufhebung des Kalifats (3. März 1924) hatte das Haus Osman den letzten Rückhalt auf türkischem Boden verloren und wurde ausgewiesen. Gleichzeitig wurden alle türkischen Schulen dem Ministerium für Nationale Erziehung unterstellt. Das bedeutete die Auflösung zahlreicher höherer Lehranstalten für die Ausbildung von islamischen Gelehrten (Medresen). Das Ministerium für Angelegenheiten des islamischen Rechts (Scharia) wurde durch eine Generaldirektion für religiöse Fragen ersetzt, analog verfuhr man mit dem Ministerium für fromme Stiftungen. Mustafa Kemal war selbst an der Türkisierung des Gebetsrufs beteiligt, der zuerst am 30. Januar 1932 in seiner arabischen und dann türkischen Form verkündet wurde. Die islamischen Bruderschaften wurden energisch bekämpft. Besonders sichtbar waren die Folgen des »Gesetzes über das Tragen von Hüten«, mit dem der Fes und der Turban aus dem öffentlichen Leben verbannt wurden. Für den Gesichtsschleier der Frauen wurden keine gesetzlichen Regelungen getroffen, doch verschwand er zunehmend aus dem Bild der Städte.

In einer 36-Stunden-Rede im Oktober 1927 rechtfertigte Mustafa Kemal, seit 1934 Atatürk (»Vater der Türken«) genannt, seine Reformen. Diese nutuk wurde zur »Bibel« des kemalistischen Geschichtsbilds. Die entscheidende Reform in Richtung auf eine Trennung von Religion und Staat war die fast wörtliche Übernahme des Zivilgesetzbuches der Schweiz (1926). Die in den islamischen Rechtsnormen festgeschriebene Minderwertigkeit der Frau wurde damit beseitigt. Bis 1934 erhielten Frauen auf allen städtischen und staatlichen Ebenen das passive und aktive Wahlrecht. 1935 nahmen 17 weibliche Abgeordnete in einer Nationalversammlung von 386 Mitgliedern Platz. Am 10. April 1928 verschwand der Satz der türkischen Verfassung, der den Islam als Religion der Republik Türkei bezeichnet hatte. Gegen alle Voraussagen erfolgreich war die Umstellung auf die lateinische Schrift innerhalb weniger Monate. Die neue Schrift wurde in Alphabetisierungskampagnen, den Nationalschulen, ins ganze Land getragen. Ein staatlich verordnetes Geschichtsbild behauptete eine frühe Einwanderung von Türken in den Vorderen Orient, um den türkischen Nationalismus mit der anatolischen Vergangenheit zu versöhnen. Gleichzeitig wurde die in jungtürkischer Zeit betriebene Purifizierung des Türkischen vorangetrieben: Tausende von Wörtern arabischer oder persischer Herkunft wurden zum Teil mit nachhaltigem Erfolg durch Kunstbildungen ersetzt. Am 3. Februar 1926 wurde der Religionsgelehrte Iskilipli Atf Hodscha zusammen mit zwei anderen Angeklagten vor dem Revolutionsgericht in Ankara zum Tode durch den Strang verurteilt. Man hatte ihm seine gesamte »reaktionäre« Biografie zum Vorwurf gemacht, unter anderem die Verteilung einer Broschüre über »Die Nachäffung der Europäer und den Hut« aus dem Jahr 1924. Der Hodscha habe auch nach Verkündigung des Hutgesetzes seine Propaganda im Untergrund fortgesetzt.


Der Kampf Atatürks gegen seine Widersacher

Im Februar 1925 brach im Herzland der Zaza-Kurden ein Aufstand aus, der sowohl die Merkmale einer religiös motivierten Rebellion als auch einer kurdisch-nationalistischen Erhebung trug. Die Aufständischen konnten sich jedoch nur kurze Zeit behaupten. Scheich Sait, die treibende Kraft des Aufstandes, wurde gefasst und gehängt; zahlreiche Kurden wurden in westliche Landesteile deportiert. In anderen Landesteilen gab es weitere Guerilla-Aktivitäten, von denen nur der Dersim-Aufstand (1937/38) größere militärische Gegenmaßnahmen erforderte. Mustafa Kemal benutzte die Lage, um sich ein Gesetz zur »Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung« genehmigen zu lassen. Es erlaubte der Regierung nicht nur einen harten Zugriff auf Kurden und religiöse Amtsträger, sondern auch eine verschärfte Zensur der unliebsamen Istanbuler Presse. Ein Attentatsversuch in Izmir (15. Juni 1926) auf Mustafa Kemal lieferte den Vorwand, mit prominenten Gegnern abzurechnen.

Der Übergang zum Einparteiensystem erfolgte nach einem riskanten Experiment mit einer zugelassenen Oppositionspartei im Wahljahr 1931. Weder im Parlament noch vor den Wahlen konnte von einer freien, demokratischen Aussprache die Rede sei. 1931 wurde auch das Netzwerk der Türken-Heime, einer kulturpolitischen Organisation, aufgelöst und nach und nach durch die »Volkshäuser« ersetzt. Eine Anzahl von Organisationen wie die nationale Frauenvereinigung löste sich selbst auf mit der Begründung, ihre Ziele seien mit der Revolution erreicht. Die fortschreitende Deckungsgleichheit von Staat und Republikanischer Volkspartei fand ihren Ausdruck in der Übernahme der kemalistischen Prinzipien von 1931 in den Verfassungstext.

In den Dreißigerjahren beteiligte sich Ankara nach Abschluss eines Freundschaftsvertrages mit Griechenland erfolgreich an der Bildung regionaler Bündnissysteme mit seinen westlichen (Balkanpakt 1934) und östlichen Nachbarn (Pakt von Sadabad 1937). In Montreux wurde 1936 das bis heute gültige Abkommen über die türkische Kontrolle der Meerengen - gegen den Widerstand der Sowjetunion - unterzeichnet. Noch in Atatürks Todesjahr leiteten Wahlen in dem umstrittenen »Sandschak von Alexandrette« (Iskenderun) die Rückkehr der Provinz aus dem syrischen Mandatsgebiet Frankreichs in die Türkei ein. Kemal Atatürks Sondergesetzen fielen etwa 600 Menschen durch Exekution und weitere 7500 durch Verhaftungen zum Opfer. Das Fehlen einer bemerkenswerten Opposition erlaubt aber den Schluss auf einen breiten Konsens, zumindest der Elite, mit seinen Maßnahmen zur Austrocknung islamischer Einrichtungen und zum Aufbau eines westlichen Schul- und Hochschulsystems.
von Prof. Dr. Klaus Kreiser.

Wie schon angekündigt, hier einige Rezensionen der neuen Biographie Atatürks von Klaus Kreiser, die Einblicke in seine neueren Erkenntnisse geben, gewonnen durch neue Auswertungen der ihm zugänglichen Archive:

Klaus Kreiser: Atatürk. Eine Biographie. München (C. H. Beck Verlag) 2008.

(Jetzt auch endlich in der googlebooks-Vorschau weithin einsehbar!)

Leseprobe beim Verlag.

Klaus Kreiser mit kurzer Skizzierung Atatürks 2007:
Qantara.de - Mustafa Kemal Atatürk - Von Saloniki nach Ankara

Klaus Kreiser mit kurzer Skizzierung Atatürks 2008:
Zeitgeschichte: Staatsgründer Kemal Atatürk auf Reisen | Nachrichten auf ZEIT ONLINE

Buch der Woche

Saloniki war an allem schuld

Von Jacques Schuster

Wer die Atatürk-Biografie von Klaus Kreiser liest, der versteht, warum die Türkei so ist, wie sie heute ist und warum Mustafa Kemal eine zentrale Rolle spielt

Es ist nicht leicht, sich dem Vater der türkischen Republik zu nähern. Schon zu Lebzeiten stand Mustafa Kemal Atatürk unter Denkmalschutz und machte weidlich Gebrauch davon. Zudem scheint es, als hätte sich schon der junge Offizier bis zur Unkenntlichkeit in Würde eingehüllt. Heute steht er da, wie ihn die offiziellen Porträts zeigen: aufrecht und heldenhaft, furchtlos und hellsichtig - ein türkischer Moses. Widersprüche in seinem Wesen, düstere Seiten gar wird man im Nachhinein kaum finden, sieht man von seiner Alkoholsucht ab. Offenbar haben seine Anhänger, seine Nachfolger und die Schar der Hofhistoriker ganze Arbeit geleistet, Mustafa Kemal die Vielschichtigkeit zu nehmen.

Ein kluger Kopf hat den menschlichen Charakter als Verhältnisziffer zwischen einer Summe von Trieben und einer Summe von Hemmungen beschrieben. Im Leben Atatürks wird man diese Ziffer nicht mehr benennen können. Eine wirkliche Biografie, die auch die dunklen Winkel, geheimnisvollen Gänge, blinden Fenster, schmutzigen Höfe und verschlossenen Bordelle beleuchtet, die jeder menschlichen Seele eigen sind, gibt es nicht und wird es wohl auch niemals geben. Das Ergebnis ist die Trivialbiografie. Sie lässt vieles aus, findet für alles Erklärungen und vergisst: Atatürk ist nach anderen Gesetzen angetreten als seine Deuter.

Wer hinter diesen Worten den Anfang eines Verrisses vermutet, der irrt. Klaus Kreiser bemüht sich redlich, die Ikone Atatürk zum Leben zu erwecken, auch wenn er nicht viel weiter kommt - nicht viel weiter kommen kann - als seine vor allem englischsprachigen Vorgänger. Im Falle Mustafa Kemals also muss anders vorgegangen werden. Und wer die Biografie als Darstellung einer allgemeinen Geschichte von einem persönlichen Zentrum aus gesehen versteht, der wird Kreisers "Atatürk" mit Genuss und Gewinn lesen: mit Genuss, weil der Bamberger Professor schreiben kann (was sich nur von wenigen Turkologen sagen lässt); mit Gewinn, weil der Autor die Türkei gleichsam auf eine Person verdichtet. Wer Kreisers Atatürk-Biografie liest, der versteht, warum die heutige Türkei so ist, wie sie ist. Er wird sich einen Reim darauf machen, aus welchem Grund Reformen dort niemals die Folge der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung sind, sondern stets von oben angeordnet werden. Er wird darüber hinaus verstehen, weshalb die türkische Republik bis heute eine "defekte Demokratie" ist, wie die Experten sie nennen. Er wird begreifen, warum das Militär trotz zahlreicher Putsche (1960, 1971 und 1980) noch immer angesehen ist und als Wahrer der Staatsinteressen gefeiert wird. Schließlich wird er herausfinden, weshalb das Land bis in unsere Tage hinein immer wieder von einem Nationalismus gepackt wird, der in westlichen Augen befremdlich ist. Was kann man mehr von einem Buch über Atatürk erwarten? ...
Weiter in der Welt.

Biografie

Vom Feldherrn zum Lehrer der Nation

Klaus Kreisers glänzende Biografie des Mustafa Kemal Atatürk, des Begründers der modernen Türkei  

Überraschend war es schon, dass sich der Vater der Nation über eine türkische Alltagssituation dermaßen ärgern konnte. Mustafa Kemal Atatürk hatte auf einer Inspektionsreise in die Provinz 1925 Frauen mit Kopftuch getroffen, die in Anwesenheit von Männern starr auf den Boden blickten. »Darf die Mutter, die Tochter einer zivilisierten Nation sich in eine solch barbarische Haltung begeben?«, wütete er vor Parteigenossen und schloss: »Man muss dies unverzüglich korrigieren.« Fortan war die klassische Kopfbedeckung anatolischer Frauen in Amtsstuben verpönt. In manchen türkischen Provinzen wurde der Gesichtsschleier sogar grundsätzlich verboten. Ein neues Frauenbild verbreitete sich in der Türkei. Haare durften sichtbar, Ärmel und Röcke kürzer sein. Das Land wurde umgekrempelt. ...

Weiter in der ZEIT.

Visionen für eine junge Nation 

Biografien Mustafa Kemal Atatürks und seiner Ehefrau Latife  

Günter Seufert
Das historische Buch

Sie hätten eine neue Dynastie begründen können. Er, Mustafa Kemal Atatürk, der erfolgreichste türkische Feldherr im Ersten Weltkrieg und Gründer der modernen Türkei, der sich auf dem Höhepunkt seiner Macht selbst zum Sultan und Kalifen hätte ernennen können. Sie, Latife Usakizade, die polyglotte Tochter eines reichen Kaufmanns aus Izmir, die während ihrer kurzen Ehe mit dem Helden der Nation die politische Elite für sich einnahm und die Herzen der ausländischen Journalisten jener Zeit im Sturm eroberte. Es kam anders. Statt für die Fortsetzung der Monarchie und des osmanischen Vielvölkerreiches entschied sich Atatürk für den türkischen Nationalstaat sowie die Republik, und das Traumpaar Kemal und Latife liess sich bereits nach knapp drei Jahren scheiden. Mit Klaus Kreisers «Atatürk» und Ipek Çalislars «Latife Hanim» liegen jetzt neue Biografien der beiden Eheleute vor, die nicht nur das Leben von Kemal Atatürk und das seiner Frau schildern, sondern die auch erklären, warum das scheinbar so nahe liegende Fortführen der alten Verhältnisse keine reale Alternative war. ...
Weiter in der NZZ.

General, Staatsmann, Oberlehrer 

Klaus Kreiser schildert spannend das Leben und das Wirken des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk  

Nicht nur, weil die Türkei in diesem Jahr Ehrengast der Frankfurter Buchmesse ist, sondern vor allem, weil sich das Land in einem interessanten Prozess der Veränderung befindet, muss eine neue Biographie Mustafa Kemal Atatürks ((1881 bis 1938) großes Interesse wecken. Vieles spricht dafür, dass Klaus Kreiser - emeritierter Turkologe aus Bamberg - eine Biographie verfasst hat, die für lange Zeit schwer zu übertreffen sein wird. Er schildert die Vita und das Wirken des "Türkenvaters" und Gründers der Türkischen Republik in einer Weise, die sich wohltuend von den unkritischen Lobeshymnen früherer Biographen abhebt, zumal in der Türkei. Als Turkologe kann sich Kreiser ausgiebig auf türkische wie osmanische Originalquellen stützen, die - der Sprache wegen - anderen deutschen oder europäischen Historikern nicht zugänglich sind.Es entsteht ein Bild des Republikgründers und Kulturrevolutionärs, das eindringlich die positiven Seiten seiner historischen Mission, doch auch die problematischen ohne Aufgeregtheit und polarisierende Wertungen schildert. Kreiser will weder glorifizieren noch destruieren, sondern einfach beschreiben, wie es war: Vom kleinen Haus in Saloniki (Selânik), wo Kemal geboren wurde, bis zum pompösen Dolmabahçe-Palast in Istanbul, in dem er starb und von wo aus er, der "Gazi" (Glaubenskämpfer), der "ebedî sef" (ewige Anführer) oder "ebedî ata" (ewiger Vater, wie die Zeitung "Cumhuriyet" ihn nach seinem Tod auf der ersten Seite nannte) nach Ankara überführt wurde, in "seine" Hauptstadt, die er dem neuen Staat in der anatolischen Steppe verordnet hatte. ...
Weiter in der FAZ.


Sie sollen werden wie ich  

Von Ch. Schlötzer

Schöne Frauen und ein Oberlehrer: Eine neue Atatürk-Biographie zeigt den Gründer der Türkei ohne Denkmalschutz - und erklärt, warum die Türkei nicht von ihrer Vergangenheit loskommt.

Der Pascha kümmerte sich um alles, auch um die Kunst, oder was er dafür hielt. Das Bilderverbot im Islam gefiel Mustafa Kemal Atatürk nicht, so wenig wie andere Gesten der Unterwerfung unter die Gesetze der Religion.

Die Bildhauerkunst sollte man "mit schönen Statuen verkünden", wünschte der Gründer der modernen Türkei. Diese neue Geisteshaltung aber stieß auf heftigen Widerspruch. So legte sich der große Volkserzieher ins Zeug und argumentierte mit den Reiterstandbildern von Kairo und Alexandria. Und seien die Ägypter vielleicht keine Muslime? So fragte der Oberlehrer der Nation 1923 in Bursa sein staunendes Volk. Später schrieb die junge Republik Kunststipendien für München, Berlin und Paris aus, und sie errichtete ganz viele Atatürk-Statuen.
Noch heute sind die Kemal-Bildnisse in der Türkei so häufig, dass Landesunkundige gelegentlich meinen, bei dem inflationär Porträtierten handle es sich um den aktuellen Präsidenten. Wer aber war der Mann, dessen Persönlichkeitsschutz in der Türkei bis heute Verfassungsrang hat, dessen Konterfei in keiner Business-Lounge und keiner Beamtenstube fehlen darf, und der so viele Titel trug, dass der Turkologe Klaus Kreiser allein mit der Nacherzählung der Namen ein ganzes Kapitel seiner gerade neu erschienenen Atatürk-Biografie füllen kann? ...
Weiter in der SZ.

Wie ihr seht, ist dieses Buch überaus positiv rezensiert worden.

Zum Schluss, lassen wir den Autor selber noch zu Wort kommen, in einem Interview, welches er auf dem Blauen Sofa anlässlich der Frankfurter Buchmesse gegeben hat. Angemerkt sei, dass dieses Interview aufgrund des Fragestellers, und aufgrund der manchmal zu ausschweifenden Antworten des Prof. Kreisers, nicht zu den absoluten Highlights an Interviews gehört. Dennoch erhält man einige Einblicke in das Leben Atatürks, abseits der obigen Rezensionen, und man kann es sich mal anhören, oder unterwegs als Podcast auf dem Smartphone.


Bitte wie üblich auf den orangenen Kreis in der Mitte klicken.

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(Bildquelle: Wikimedia Commons)

5 Kommentare:

  1. Ich kann übrigens dieses Buch zu Atatürk empfehlen von Halil Gülbeyaz "Mustafa Kemal Atatürk. Vom Staatsgründer zum Mythos"

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  2. Militärische Erfolge hat er nicht. Seine grotesken Reformen konnten durchgesetzt werden, weil die männliche Bevölkerung durch den Völkermord stark dezimiert, verkrüppelt und zermürbt war. Das Hutgesetz ist legendär. Da man damals nur eine Partei wählen konnte, gab es faktisch kein Wahlrecht. Die alte Schrift wurde verboten, um die Verbindung mit der islamischen Welt und der Vergangenheit zu trennen, das Kulturerbe auszuradieren, sowie um Zeitungs- und Buchdruck zu monopolisieren.

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  3. Achtung Zitat: "Militärische Erfolge hat er nicht.." --> Muss man hier lachen oder was :))))))

    Atatürk hat gegen mehrere angreifende Militärmächte gleichzeitig kämpfen müssen ohne die entsprechende Ausrüstung dafür zu besitzen. Er hatte nur sein VOLK!!!

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  4. Danke Anonym 2, Anonym 1 muss hier sein Gesicht verdecken damit er ja nicht auffliegt!
    Unsere typischen Möchtegern-Moslems die immer noch zum "gestohlenen" Osman. Kalifat halten.

    Keine Erfolge ist wirklich ein Witz, es gäbe keine Männer mehr im Land!!?!?!?!
    Dezimiert durch Völkermord !?!?!?!

    Sogar Neutrale erkennen seine Leistungen an, doch die neue AKP-Generation versucht tatsächlich ein neues türk. Sultanat zu verwirklichen.

    Nicht mit uns Leute!

    Ich "oute" mich dazu gerne: Ali

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