Karte der armenischen Deportationen 1915 |
Nun ist es also passiert, pünktlich vor dem Wahlkampf: Die französische Nationalversammlung hat dem Gesetzentwurf zugestimmt, mit dem die Leugnung des armenischen Völkermordes seitens des Osmanischen Reiches künftig unter Strafe gestellt wird.
Diese Gelegenheit möchte ich hiermit nutzen, mal meinen Standpunkt darzulegen. Mitunter möchte man hier als unbedarfter Leser beim Durchklicken meiner Artikel meinen, ich wäre ein Revisonist, ein Beschöniger osmanischer und islamischer Geschichte, und so weiter. Dieser Eindruck könnte in der Tat dann entstehen, wenn jemand in dem Geschichtsbild über den Orient aus der Mitte des 20. Jahrhunderts verharrt. Inzwischen haben sich jedoch Erkenntnisse, auch die Methodik der Geschichtswissenschaft, der Osmanistik, Islamwissenschaft, Turkologie, etc. weiterentwickelt und mitunter stark vermehrt. Dabei sind alte Gewissheiten ins Wanken geraten, manchmal revidiert worden, es fanden gar Paradigmenwechsel statt. Mein Fokus des Blogs liegt darin, auf diese neueren Erkenntnisse hinzuweisen, alte Zerrbilder zu aktualisieren. Meistens ist es eben so, dass inzwischen das Osmanische Reich eben doch nicht mehr sooo böse, barbarisch, blutrünstig, unzivilisiert dargestellt wird, wie es noch vor wenigen Dekaden gängig war. Daher wirkt der neuere Forschungsstand bei mir oft beschönigend, doch wer regelmäßig hier liest, stellt auch fest, dass ich versuche nicht einseitig zu sein, indem ich beispielsweise Massaker, Gräuel, Fehlentwicklungen nicht ausklammere. So schilderte ich beispielsweise nicht nur die im Westen grassierende Islamfeindlichkeit oder Islamophobie, sondern machte auch auf die im Nahen Osten teilweise bestehenden Zerrbilder über den Westen aufmerksam. Oder zeigte negative Aspekte in der islamischen Welt, wie zum Beispiel die wahhabitische "Kulturrevolution" in Saudi-Arabien.
So nehme ich auch bezügliches des Völkermordes der jungtürkisch-osmanischen Regierung an den Armeniern hier mal Stellung. Wichtig dabei ist, dass es vor allem um die Frage geht, wollte die osmanische Regierung die ost- und westanatolischen Armenier (aber nicht die Istanbuler Armenier) durch das Mittel der Deportation auslöschen, also gezielt töten, oder nahmen sie deren Todesrate auf dem Marsch der Deportation nur billigend in Kauf, da sie mitten im 1. Weltkrieg einen Mehrfrontenkrieg führten und keine Ressourcen, und auch keine Organisation zustande brachten, um eine "humanere" Zwangsumsiedlung zu bewerkstelligen?
Es geht also um die Frage: Absichtlicher vorsätzlicher Völkermord oder unabsichtlicher Völkermord.
Zumindest für viele Historiker und für mich auch. Denn schaut man sich mal die Definition der Vereinten Nationen an, was unter Völkermord fällt, dann sollte jedem Leser sofort auffallen, dass hier der Straftatbestand des Völkermordes an den Armeniern erfüllt wurde, unabhängig, ob durch die Begleitumstände, oder durch Absicht - schlicht durch den Deportationsbefehl:
Als wegen Völkermord zu Bestrafender gilt,
„[w]er in der Absicht, eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihr Volkstum bestimmte Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören, vorsätzlich
- Mitglieder der Gruppe tötet,
- Mitgliedern der Gruppe schwere körperliche oder seelische Schäden […] zufügt,
- die Gruppe unter Lebensbedingungen stellt, die geeignet sind, deren körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen,
- Maßregeln verhängt, die Geburtenraten innerhalb der Gruppe verhindern sollen,
- Kinder der Gruppe in eine andere Gruppe gewaltsam überführt“.
Denn auch die meisten "Völkermordleugner" leugnen ja nicht die Deportation der Armenier, samt vielen ihrer tragischen Begleitumstände. Insofern müssten sie sich eigentlich Gruppe der "Vorsätzlicher Völkermordleugner" nennen.
Ich interessierte mich vor Jahren für das Thema, als ich feststellte, dass in zahlreichen Standardwerken zur osmanischen oder türkischen Geschichte, überwiegend von westlichen Autoren, dieser Völkermord recht selten mal als dieser bezeichnet wurde. Es wurde sowieso recht wenig auf die genauen Umstände eingegangen. Meist wurden nur einige Fakten aufgeführt, ansonsten die Bewertung umgangen, oder juristische Aussagen, also Tötungsabsicht mittels Deportation, ja oder nein. Dabei wusste ich aus hiesigen Massenmedien, dass allgemein von einem Völkermord ausgegangen wird. Das gezielt die Armenier "in die Wüste" geschickt worden seien, damit sie dort verrecken sollten. Wieso dieser Widerspruch? Wieso erhalten diese Standardwerke der Orientalistik hervorragende Rezensionen, warum stehen sie in allen Uni-Bibliotheken, in den Seminaren, gelten als Pflichtlektüre für jeden Studenten? Und wieso wird sogar in der altehrwürdigen Enzyklopädie Brockhaus von 2007 nicht von Völkermord, sondern "nur" von Deportationen gesprochen? Wer nun in Frankreich den Brockhaus zitiert, muss ins Gefängnis oder Strafe zahlen? Ich halte das französische Gesetz für absurd.
Aufgrund obigen widersprüchlichen Beispiele machte ich mich mal an die Suche nach Antworten, versuchte der Sache auf den Grund zu gehen, und stellte bald schnell fest, dass es doch recht wenige Historiker weltweit sind, die sich mit diesem Thema wirklich intensiv beschäftigen. Und wenn es nur wenige Spezialisten sind, die den Völkermord erforschen, ist die Manipulierbarkeit natürlich viel höher, die Instrumentalisierung der Geschichte, als wären es mehrere Dutzend Historiker. Immerhin sind immense Sprachkenntnisse erst einmal Voraussetzung, überhaupt etwas zu erforschen, neben den westlichen Sprachen, um die diplomatische Korrespondenz lesen und vergleichen zu können, muss man noch Osmanisch (in einer völlig anderen Schrift, teilweise auch Schriften, denn Osmanisch wurde in diversen Schreibstilen geschrieben, die nicht immer einfach zu lesen sind), dazu noch modernes Türkisch (mit lateinischen Buchstaben) und idealerweise auch armenisch lesen können. Da kommt leicht ein Dutzend Sprachen zusammen, was für jeden Gelehrten eine echte Herausforderung darstellt, und die geringe Zahl an Historikern (oder auch unprofessionellen Historikern) erklären hilft. Was die Sache weiterhin schwierig macht, sind einerseits politische Implikationen, so ist nicht von der Hand zu weisen, dass einige westliche Völkermordzweifler seitens der türkischen Regierung finanziert werden oder wurden. Das muss allerdings noch nicht bedeuten, dass ihre Forschung weniger seriös ist, als die "armenische Seite", die ja teilweise ebenfalls finanzielle Begünstigungen seitens von Armeniern erhalten - ohne, dass dieses im Westen einen Aufschrei der Empörung hervorruft. Ich bin der Meinung, es kommt nicht in erster Linie darauf an, wer welche Forschung bezahlt, auch wenn wir die vielen Negativbeispiele z.B. aus der Tabakindustrie kennen, wo Forscher sich instrumentalisieren ließen und gelinde gesagt unsaubere Ergebnisse lieferten, nein es kommt in erster Linie auf die Forschungsergebnisse selbst drauf an, auf ihre Verifizierbarkeit. Sind die Erschließungen der Quellen seriös, lassen sich die Schlussfolgerungen, die Interpretationen gut begründen, ja oder nein.
Andererseits besteht eine weitere Schwierigkeit für historische Laien darin, dass es einige Widersprüche in dieser Völkermordfrage gibt. Oft hört man den Satz, es seien nicht alle Armenier massakriert worden, und das wäre so, als hätte Adolf Hitler den Holocaust befohlen, dabei aber Köln, Frankfurt, Stuttgart und Hamburg dabei vergessen. Oder es wird darauf verwiesen, dass Offiziere durch die osmanische Regierung durchaus für ihre Taten bei den Deportationen bestraft wurden, gehängt wurden.
Es gab und gibt übrigens nicht nur dieses oben verlinkte Historiker-Symposium in Istanbul, sondern es gab durchaus schon öfters Konferenzen zu diesem Thema, hier eines 2005 in der Schweiz. Dort vertraten (fast) alle, auch Türken, die Auffassung, es handele sich um einen gezielten Völkermord. Weil manchmal in Diskussionen so getan wird, wir bräuchten nur eine "unabhängige" Historikerkommission, die endlich einmal die Archive sichten müsse, um Klarheit in die Sache zu bringen, also aus der Sicht der Zweifler und Leugner (da mache ich schon Unterschiede zwischen Skeptikern, und dezidierten Leugnern), dann endlich zu beweisen, es war kein geplanter Massenmord, sondern die Umstände waren es. Dabei wird oft verkannt, es gab und gibt schon lange internationale Historiker-Kongresse speziell zum Thema, oder im Rahmen eines Oberthemas.
Nun, ich möchte hier gar nicht weiter mit genaueren Pro- und Kontra-Argumenten langweilen. Wer sich dafür interessiert, wer sich für einen Teil meiner Recherchen, viele weitere Links und Zitate für meinen Meinungsbildungsprozess interessiert, kann es hier tun. Sehr schön erkennt man im Verlauf der Diskussion auch mein Schwanken von diversen Positionen die ich einnehme, meine Unsicherheit in der Bewertung des Gelesenen, wobei ich immer eher auf Seiten der Völkermord-These war, diese aber nicht nur nachplappern wollte, sondern verstehen wollte. Ebenso wollte ich die Gegenargumente verstehen, und vergleichen, obwohl ich dadurch recht starken Gegenwind bekam, weil viele Diskutanten es sich zu einfach machen, und jegliche Zweifel gleichsetzen mit Nazi-Holocaust-Leugnern. Ich habe es mir jedenfalls nicht leicht gemacht, und in recht kurzer Zeit intensiv recht viele Texte aller Parteien durchgelesen.
Das Fazit meiner Recherchen ist letztlich, dass man nicht darauf vertrauen sollte, was in den Massenmedien dauernd kolportiert wird, zum Beispiel, dass es hunderte Historiker gibt, die zweifelsfrei durch Quellenstudien bewiesen hätten, dass der Völkermord zwecks Deportation so geplant gewesen sei. Es also vergleichbar sei, wie bei der Erforschung des Holocaust. Nein, es sind nur wenige Dutzend sehr spezialisierte Historiker oder Privatpersonen, die sich in diesem hochpolitisiertem Minenfeld tummeln. Keinesfalls vergleichbar mit der Holocaust-Forschung.
Also muss man sich die renommiertesten (und vielleicht "neutralsten") dieser Gelehrten für sich heraussuchen, ihrer Urteilskraft vertrauen, und sich deren Fazit anschließen. Nicht jeder hat jahrelang Zeit sich intensivst mit diesem Thema auseinander zu setzen, um selber alle Argumente einem Faktencheck zu unterziehen. Einfache Antworten in dieser komplizierten Materie sind meistens die falschen Antworten.
Interessanterweise gibt es nicht wenige Fälschungen, Falschdeutungen, zum Beispiel seitens der armenischen Position. Insofern kann ich viele Türken verstehen (aber nicht zustimmen), die der ganzen Völkermord-Debatte misstrauen, gegebenenfalls sogar von Verschwörungen zwecks Schwächung der Türkei ausgehen. Diese Fälschungen, oder Fehldeutungen sollte einen jedoch nicht dazu verleiten, gleich alles, was für einen Völkermord spricht, als Fälschungen, oder als Propaganda abzutun, denn das wäre doch zu einfach. Macht man bei anderen Themen doch auch nicht, diese Pauschalisierung? Da achtet man doch auch (zurecht) penibel darauf, z. B. nicht von der erhöhten Kriminalitätsrate von Deutschtürken darauf zu schließen, "die" Türken wären halt allgemein von Natur aus kriminell? Also sollte man auch darauf achten, nicht zu sehr zu vereinfachen, also von auftauchenden Fälschungen jegliche Forschungen seitens Armeniern gleich zu verdammen. Ebenso gilt es auch für die Gegenseite: Nicht jeder von der Türkei bezahlte westliche Forscher schreibt nur Propaganda, sondern liefert mitunter wertvolle Beiträge für die Debatte. Man sollte also Punkt für Punkt, These für These auf Stichhaltigkeit abklopfen, denn immerhin gibt es nicht so viele Historiker, die einigermaßen Brauchbares liefern, als dass man alle ignorieren könnte die jemals einen Fehler in ihren Arbeiten haben. Oder wie gesagt diese Arbeit den Profis überlassen, also weltberühmten Turkologen, Osmanisten, Historikern. Und dann deren Position sich zu eigen machen.
Ich konnte im Laufe der Diskussion, auch in deutschtürkischen Foren, etliche Positionen der Türken oder der Türkei nachempfinden, mich in sie hinein versetzen, denn ich habe mich schon immer gewundert, warum so bekannte Orientalisten wie Suraiya Faroqhi oder Klaus Kreiser in ihren Standardwerken (siehe den Buchtipp Reiter oben mit einsehbaren googlebooks) nicht klipp und klar von Völkermord sprachen, sondern sich lediglich auf die Beschreibung der schrecklichen Deportationen beschränkten. Dies hängt auch nicht mit dem berüchtigten Paragraphen 301 zusammen. Man könnte ja annehmen, dass einige (westliche) Turkologen sich einen Maulkorb verpassten, um Forschungen zukünftig noch in der Türkei ausführen zu können. Bei dieser Sichtweise wird verkannt, dass es durchaus schon seit etlichen Jahren viele viele Publikationen in der Türkei gibt, die durchaus auch offen von einem Völkermord schreiben. Das ein durchgeknallter ultranationalistischer Staatsanwalt Orhan Pamuk vor Jahren anklagte, sollte nicht dazu verleiten zu denken, in der Türkei könne nicht über den Genozid geforscht werden. Das kann also kaum der Grund dafür sein, warum einige Historiker nicht dezidiert von Völkermord schreiben.
Jedenfalls muss noch mehr geforscht werden, und das Urteil in Frankreich halte ich auch für kontraproduktiv. Doch trotz noch so mancher offener Frage, oder nicht geklärtem wissenschaftlichen Konsens, kann man schon heute eines festhalten:
Die Indizien, auch die Beweisketten reichen schon heute dazu aus, von einer hohen Wahrscheinlichkeit der Völkermord-These auszugehen. Die bisherigen gesichterten Fakten, trotz aller politisch intendierter Propaganda, auch schon zu Zeiten des 1. Weltkrieges, reichen durchaus aus, eher von einem geplanten Völkermord als dem Gegenteil auszugehen.
Das gebietet nicht nur die Faktenlage, sondern auch der gesunde Menschenverstand, die Logik. Denn um all diese Fakten zu entkräften, und von keinem Vorsatz auszugehen, müsste man schon sehr viele geistige Verrenkungen bis hin zu Verschwörungstheorien anstrengen. Zudem müsste man sehr oft Pauschalisieren. Quellen oder Befunde allgemein in ihrer Gesamtheit anzweifeln, etc.
Nein, allen (Deutsch-)Türken würde ich empfehlen, lieber heute als morgen, von einem geplanten Völkermord auszugehen, nicht aus Opportunismus, nicht, um hier nicht als "rechter Spinner" in Deutschland zu gelten, sondern einfach, weil die Wahrscheinlichkeit dieser These viel höher ist, als die der Gegenthese. Weil etliche Fakten einfach zwingend sind. Zudem, was wäre schon dabei jetzt der Völkermordthese zuzustimmen. Sollten in 10 oder 20 Jahren auf einmal total andere Ergebnisse herauskommen, kann man dann ja immer noch wieder auf die Leugnungsthese umschwenken. Abgesehen davon, gehen ja auch die Völkermordleugner von einem unendlichen Leid der Armenier aus, insofern könnte man sein Mitgefühl viel besser dadurch ausdrücken, dass man davon ausgeht, die Armenier sollten vernichtet werden, und nicht davon ausgeht, dass die Jungtürken einfach zu dumm waren, die Deportation zu sichern und mit genügend Lebensmittel zu versorgen. Heute ist es so, dass die internationale Historikerzunft trotz Gegenstimmen mehrheitlich von einem geplanten Versuch ausgeht, die Armenier möglichst zahlreich auszurotten.
Wobei es eine Position gibt, die ich bevorzuge, die auch einige Widersprüche aufklären kann, die manchem Zweifler Kopfzerbrechen macht. Die unten zitierte Position von Erik Jan Zürcher,
der quasi das Standardwerk, den Nachfolger des ebenso berühmten wie veralteten Werkes ("The Emergence of Modern Turkey") von Bernard Lewis laut Rezensionen schrieb. Die wichtigsten Schlüsselsätze werde ich hervorheben. Wer kein Englisch versteht, kann die automatisierte Übersetzung dieser Seite mittels der unteren Service-Leiste benutzen.
Noch ein Wort zu den einheimischen Deutschen, die den Völkermord-Skeptikern in Diskussionen allzu schnell in die gleiche Nazi-Ecke stellen wie Holocaust-Leugner. Diese Pauschalisierung, die Vereinfachung finde ich nicht richtig. Sicher, es gibt genügend (vielleicht auch nur besonders in dieser einen Frage) fanatisierte rechts oder nationalistisch gesinnte Türken, die durch ihre dauernden Rechtfertigungen, ihren Hass auf die heutigen (Diaspora-)Armenier, jegliche Mitmentschlichkeit mit den Opfern Hohn sprechen. Es gibt auch in jeglicher Hinsicht erkennbare rechte Ultranationalisten, mit denen man durchaus hart diskutieren kann, oder sie wie die Nazis gleich meiden kann. Die Mehrzahl ist jedoch eher von einem Halbwissen getrieben, in Deutschland sowieso gewohnt, immer bei Diskussionen in der Defensive zu sein, und diese schart sich nicht selten in dieser einen Frage zusammen, um eine Wagenburg zu errichten, ein typisches Verhalten jeder Diaspora, unabhängig vom Thema. Außerdem gibt es gute Gründe, zumindest skeptisch bis unsicher in dieser Frage zu sein. Denn nicht nur türkische Historiker, auch international höchst renommierte Orientalisten, Fachleute aus Oxford, Harvard, Chicago oder Yale, hatten ihre Zweifel oder leugneten einen absichtlichen Völkermord. Dies führt einen Laien nicht gerade dazu, einen Völkermord vorbehaltlos anzuerkennen, sofern man auch diese westlichen zusätzlich zu den türkischen Stimmen kennt. Insofern sollten deutsche Diskutanten nicht diese Positionen gleichsetzen, mit denen der Holocaust-Leugner. Denn stellt euch nur mal vor, die Historiker Mommsen, Walter Kempowski, Mann, Michel Foucault, Wolfgang Benz, Ian Kershaw, usw. würden in einer wichtigen historischen Frage Zweifel an einer Mehrheitsmeinung haben, würdet ihr diese hochgelobten Historiker einfach zu Seite wischen wollen, mit dem Hinweis, alles rechte Leugner, nicht ernstzunehmen? So in etwa sollte man sich die Lage vorstellen, zumindest noch bis vor wenigen Jahren, daher bin ich auch gegen eine zu leichtfertige Gleichsetzung des Holocaust mit dem Völkermord an den Armeniern, bzw. mit der Beschäftigung beider Vorgänge.
Diese westlichen Stimmen der Skepsis bis Leugnung werden allerdings in den letzten 15 Jahren immer weniger, das verkennen wiederum die Türken. Einerseits, weil inzwischen die Forschung nicht stehen geblieben ist, und manche Türken noch so diskutieren, als würden wir uns in den 1980ern befinden, andererseits sterben einfach einige der alten Turkologen-Koryphäen, so dass diese auch gar nicht mehr auf neuere Untersuchungen eingehen könnten.
Außerdem sollten die deutschen Diskutanten noch bedenken, welch schrecklich hohe Mortalitätsrate damals im Osmanischen Reich herrschte, und welche Vorgänge vor der Deportation stattfanden. Nicht, um irgendetwas zu rechtfertigen, zu beschönigen, sondern einfach, um die Entwicklung zu den Massakern an den Armeniern zu verstehen, nachvollziehen zu können. So starben selbst bei den kriegsgefangenen Briten, Neuseeländern, Australier, usw. ein Drittel an den Folgen von Hunger und Seuchen, obwohl das Militär noch die meisten Ressourcen zur Verfügung gestellt bekam. Schlimmer sah es bei der anatolischen Bevölkerung aus. Der Völkermord hatte eine Vorgeschichte, er fand nicht im luftleeren Raum statt. Dadurch ist er nicht zu entschuldigen, doch dadurch wird auch klarer, warum Teile der jungtürkischen Regierung genau wussten, was sie taten, obwohl sie eigentlich oft als Makedonier kaum Kenntnisse über Anatolien hatten, und diese sich erstmal erwerben mussten. Denn wenn schon die Lage des Militärs so katastrophal war, so war ihnen sicherlich mehr als bewusst, dass eine Deportation zu jener Zeit die Folgen durch Hunger und Seuchen haben würde, die sie eben auch hatte, wodurch die meisten Todesopfer zu verzeichnen waren. Außerdem waren ihnen die vorhergehenden Pogrome an den Armeniern im 19. Jahrhundert bekannt. Sie wussten, welches explosives Gemisch an Flüchtlingen in den letzten Dekaden in Anatolien einwanderten. Woher kamen diese Millionen von Muslimen? Von den Massakern, den Pogromen, den Raubmorden, von den Enteignungen, den Vertreibungen, die die Siegermächte an der Peripherie des Osmanischen Reiches im Zuge der Unabhängigkeitskriege der Völker an den (oft turkophonen) Muslimen verübten. Also vorwiegend aus dem Balkan und Russland sowie dem Kaukasus, wenige auch von Mittelmeerinseln, oder aus Nordafrika.
Nur selten hört man einmal in den Medien etwas von den muslimischen Opfern, die es im Zuge des 1. Weltkrieges und davor in Massen gab.
Hier mal eine einzige Ausnahme in den etablierten Medien:
Die Erinnerung an die Armenier in der Osttürkei
MP3-Download des Beitrags:
Die Erinnerung an die Armenier in der Osttürkei (Download)
An die Massaker an den Armeniern im untergehenden Osmanischen Reich denkt die Welt, wenn es um die ostanatolischen Ereignisse von 1915 geht. In Ostanatolien ist das anders. Dort leben heute keine Armenier mehr. Und die moslemische Bevölkerung erinnert sich vor allem an das eigene Leid, das ihr von Armeniern zugefügt wurde.Ich werde in einem künftigen Artikel ein wenig näher auf die Flüchtlingswellen der Muslime im schrumpfenden Osmanischen Reich eingehen.
Susanne Güsten begab sich in der osttürkischen Stadt Van auf Spurensuche. ...
Ich könnte mir aber sehr gut vorstellen, dass die Bereitschaft vieler Türken den Völkermord anzuerkennen und nicht bockig erstmal mit Ablehnung zu reagieren, steigen würde, wenn einerseits die Diskussionsteilnehmer als auch die Medien öfter mal das Leid der anderen Seite, der muslimischen Seite, die oft der der Armenier zuvor kam, zeigen und anerkennen würde. Die Berichterstattung ist doch im Bemühen ja keinen Verdacht eine dem Holocaust vergleichbare Relativierung vorzunehmen, alleine auf der einer Seite ihrer Berichterstattung. Das wäre vielleicht so, als würden die Medien alleine über die Verluste, die Ängste, die Verletzungen der US-Soldaten im letzten Irakkrieg berichten, aber kein Wort darüber verlieren, wie es den zivilen irakischen Opfern des Krieges geht, den sogenannten "Kollateralschäden". Obwohl, wenn ich mich recht erinnere, war über Irakis, die nachts aus den Betten gebrüllt und geschossen wurden, die dabei völlig unschuldig Todesängste ausstanden, deren Kinder Traumata erlitten, dass darüber auch herzlich wenig in unseren Medien berichtet wurde...
Die besondere Qualität der Brutalität bei den Todeszügen der Armenier soll damit keinesfalls aufgerechnet werden, Auge um Auge, "legitime Rache", wie es oft in Diskussionen heißt, nein, es soll nur darum gehen, dass man als historisch Interessierter nachvollziehen kann, verstehen kann, wie es zu dieser Explosion der Gewalt selbst bei sonst unbescholtenen Bürgern und ehemaligen Nachbarn kommen konnte, also Motivsuche. Und zum Völkermord an den Armeniern gehört eben zwingend die Vorgeschichte dazu. Erst in dieser Kombination glaube ich, dass einige, deren Meinung zum Völkermord noch schwankt und noch nicht völlig erstarrt ist, dann eher bereit wären, ihrerseits einzugestehen, dass sie einem türkischen historiographischem Mythos ähnlich der Sonnensprachtheorie aufgesessen sind, die in der internationalen Forschung nicht geteilt wird, und die demaskiert wurde.
Wie ihr in meinen obigen Ausführungen vielleicht bemerkt habt, gehe ich nicht oder kaum auf türkische Historiker, aber auch nicht auf armenische Historiker ein. Ich denke, am besten ist, wenn man sich einen möglichst neutralen Überblick verschaffen möchte, dass man sich da auf Historiker aus anderen (eher unbeteiligten) Ländern stützt, solange man nicht so belesen ist, selber entscheiden zu können, welche Thesen stichhaltig, und welche eher auf wackeligen Beinen stehen. Türkische und auch armenische Forscher sind doch nicht selten gerade in dieser Frage des nationalen Gründungsmythos der jungen Republiken hoch politisiert und eher befangen, als andere externe Historiker (siehe auch meine Beiträge zu den Mechanismen, wie Nationen konstruiert, erschaffen werden: Verhältnis der Muslime und Nichtmuslime im Osmanischen Reich 1. Teil)
Zumindest ist eine Überprüfung der Seriosität und der Reputation in der historischen Zunft einfacher. Außerdem kommt man so auch meist schneller an den Kenntnisstand der internationalen Forschung heran, denn wer in Leiden lehrt, wer in Oxford lehrt, etc., der ist sicherlich kein Exot mit einer Minderheitenmeinung. Selbiges könnte jedoch durchaus passieren, wenn man einem Dozenten Glauben schenkt, der vielleicht in Trabzon, Erzurum, Manisa, lehrt.
Genug der Worte, kommen wir nun zu oben erwähntem Standardwerk jedes angehenden Turkologen weltweit, auch in der Türkei steht dieses Buch auf der Liste der im Studium zu lesenden Werke. Das ist so in etwa der Kenntnisstand der (internationalen!) Wissenschaft zur modernen Türkei, inklusive der vorangegangenen Dekade. Zürcher sagt zwar, es war ein Völkermord, aber nicht von der gesamten jungtürkischen Führung ausgehend, so dass einige Widersprüche besser erklärt werden können, wenn gleichzeitig unterschiedliche Signale aus der Hohen Pforte (dem Regierungssitz) kamen. Ich traue diesem Nachfolger von Bernard Lewis zu, sich einen Überblick über die aktuelle Sekundärliteratur verschafft zu haben, erstens, weil es seine umfangreichen Sprachkenntnisse erlauben, zweitens, weil er für seine Werke durchweg hervorragende Rezensionen in der Fachliteratur erhalten hat, er weiß also, wie man korrekt und seriös wissenschaftlich forscht, und nicht zuletzt, ist diese jungtürkische Epoche sogar, anders als bei Bernard Lewis oder Standford Shaw, oder anderen Zweiflern und Leugnern einer seiner hauptsächlichen Forschungsschwerpunkte. Und das in der Türkei sogar (u.a.) nach seinen Büchern ausgebildet wird, zeigt, dass er auch den höchsten Respekt der türkischen Universitäten genießt.
Mehmed Talât Pascha, einer der Verantwortlichen damals bei dem Genozid an den Armeniern. (1874-1921) |
Weithin in googlebooks einsehbar:
Turkey: a modern history von Erik Jan Zürcher. 2004
The Armenian question
This military fiasco left eastern Anatolia open to a Russian advance,which duly materialized when the weather improved. It also marked the beginning of the suppression of the Ottoman Armenians, still a controversial issue 75 years later.
The Armenian community formed an important part of the population of the eastern Anatolian provinces although in no province did they constitute a majority or even a plurality (unless one counts Turks, Kurds and other Muslim communities separately, something the Ottomans never did). Estimates of the total number of Armenians in the empire vary, but a number of around 1,500,000, some 10 per cent of the population of Ottoman Anatolia, is probably a reasonable estimate.
After the troubles of 1896, the situation in the east had normalized to some extent, but relations between the local Armenians and Muslims, especially the Kurds, remained tense and there were frequent clashes. In May 1913, representatives of the Dashnakzutioun had demanded the establishment of a foreign gendarmerie to protect the Armenians in eastern Anatolia. The CUP government had approached the British about this matter and the latter had discussed it with the French and Russian governments. In February 1914 agreement was reached about the establishment of two inspectorates with far-reaching powers in eastern Anatolia and a Norwegian and a Dutch inspector were appointed in May.
The outbreak of war prevented the scheme from being put into operation. At the outbreak of the war, Armenian nationalists saw in a Russian victory their chance to achieve the establishment of an Armenian state in eastern Anatolia. Russian propaganda encouraged these aspirations.
A few thousand Armenians joined the Russian army; there were Armenian desertions from the Ottoman army and guerrilla activity behind the Ottoman lines. Confronted with this situation, the Ottoman army started sporadic deportations in the area behind the front. A number of relatively small-scale massacres occurred. By the end of March, the central committee of the CUP in all probability took a decision to relocate the entire Armenian population of the war zone to Zor in the heart of the Syrian desert, and eventually from there to southern Syria and Mesopotamia. An uprising by the Armenians in the provincial capital Van, to the rear of the retreat, heightened the sense of urgency. Deportations started in earnest in May. They were then sanctioned retrospectively by official cabinet decisions on 27 and 30 May 1915. By the summer of 1915 eastern and central Anatolia had been cleared of Armenians. This was followed by the deportation of the Armenians in the west, which took until the late summer of 1916 to complete. Although in broad terms the deportations followed a very similar pattern, the execution varied from place to place. In some places, the families were given 24 hours notice, in others several days. In some they were allowed to sell their possessions, in others these were ‘taken into custody’ by the authorities. In some places carts and donkeys were allowed, in others everyone had to go on foot. The caravans of Armenian deportees were guarded by gendarmerie troops, who often acted very brutally. Although the numbers of gendarmes accompanying the caravans was tiny, the victims apparently were so shocked into submission that we find almost no instances of resistance.
These deportations (officially called relocation – tehcir) resulted in the deaths of enormous numbers of Armenians. So much is undisputed historical fact.