Mittwoch, 20. Juli 2011

Balkanküche und Einflüsse

Cevapcici, Nationalgericht in vielen Gegenden Südosteuropas,
ein Erbe der Osmanen

Es führt nicht selten unter Migranten aus Südosteuropa zu heftigen Diskussionen, wenn das Thema auf die Küche des Balkans inklusive Griechenlands kommt. Denn es fallen häufig die Ähnlichkeiten der Namen der Gerichte zu denen der Türkei auf, die schon einem linguistischem Laien verraten, dass hier eine Verbindung bestehen muss. Das in den letzten 200 Jahren auf dem Balkan ein exzessives Feindbild des Osmanischen Reiches aufgebaut wurde, zwecks Abgrenzung und Emanzipation von ihm, zwecks Nationenwerdung im 19. Jahrhundert und Schaffung eines Gemeinschaftsgefühls als Nation, merkt man heute manchen Diskussionen immer noch an. Denn diese Tradition, dieses Geschichtsbild lebte auch noch im 20. Jahrhundert (zumal im Kommunismus) wirkmächtig fort, findet sich in Schulbüchern teilweise bis heute. Somit ist es kein Wunder, dass sich etliche Migranten aus dem Balkan wenig mit den Einflüssen der Erzfeinde der Osmanen auf ihre Kultur und ihre Küchen anfreunden können. Allerdings sind die Türkischstämmigen in ihren Reaktionen auch des öfteren nicht viel anders, wenn sie hören, dass dieses und jenes türkische Gericht byzantinisch-griechischen Ursprungs, oder iranischen Ursprungs ist.


Es fällt schwer, sich über die Wechselwirkung der Küchen zu informieren, jenseits aller Polemik oder unseriöser Deutungsversuche. Ein Buch habe ich bereits kürzlich hier im Blog zitiert: Geschichte der türkischen Küche.
Heute folgt ein weiteres, welches etymologisch zu erläutern versucht, wie die Balkanküche entstanden ist, und wer den größten Einfluss darauf hatte. Mir erscheint der unten stehende Ansatz höchst plausibel, denn es lässt sich immer wieder in der Geschichte feststellen, dass diejenige Kultur nachgeahmt, Teile daraus übernommen werden, die als die "höherstehende", mächtigere, kultiviertere angesehen wird, ungeachtet, ob sie es auch objektiv ist. Das war schon im Europa Napoleons so, das war so bei den Osmanen oder Römern, das ist sogar heute noch so, wo die europäische Bevölkerung ohne Zwang die anglo-amerikanische Kultur in vielen Teilen nachahmt.


Aus: Goldstein, Joyce [Mitarb.], Johnson, Peter [Mitarb.], Ehrhardt, Cornell [Übers.]: Rund um das Mittelmeer. Eine kulinarische Reise - mit 235 Originalrezepten aus Marokko, Algerien, Tunesien, Ägypten, Israel, Libanon, Syrien, Türkei, Griechenland, Zypern, Italien, Spanien, Korsika und der Provence. München, Christian Verlag 1995.



Das dreikontinentale Osmanische Reich war das letzte und in vielerlei Hinsicht auch das größte der Imperien am Mittelmeer. Im 15. Jahrhundert eroberte Mehmet II. Konstantinopel und festigte damit die Einheit des Osmanischen Reiches. Unter Süleyman drangen die Osmanen sogar bis nach Wien vor, und das »Reich der drei Meere« erstreckte sich von Ungarn bis zum Irak und von der arabischen Halbinsel bis zum Maghreb. In den Reichszentren Istanbul und Damaskus blühten Handel und Gewerbe. Als Erben der klassischen islamischen Kultur und zahlreicher byzantinischer Traditionen (die religiösen selbstverständlich ausgenommen) schufen die Osmanen eine kraftvolle und fruchtbare Synthese kulinarischer Stile, die sich in weiten Teilen Europas und der arabischen Welt niederschlug. [...]

Das Nachweisen kultureller Einflüsse ist eine heikle und vage Angelegenheit. Häufig gerät man dabei mit dem Nationalstolz eines Volkes in Konflikt, und eindeutige Quellen und Belege stehen selten zur Verfügung. Selbst im Bereich der Literatur und der Kunst, wo unter Umständen konkrete Daten analysiert werden können, steht man vor ähnlichen Problemen. [...] Die Etymologie der Namen von Nahrungsmitteln und Gerichten ist vermutlich der beste und zuverlässigste Anhaltspunkt. Wenn in einer bestimmten Nationalküche der Name einer Speise aus einer fremden Sprache übernommen wurde oder sich davon ableitet, liegt es nahe, daß auch die entsprechende Speise übernommen wurde - insbesondere, wenn die Ursprungssprache die einer siegreichen Staatsmacht oder Kultur ist. Beispiele hierfür sind die arabischen Lehnwörter, die man im Spanischen, im Italienischen und vereinzelt auch im Französischen findet, sowie die türkischen Bezeichnungen in der Küche Griechenlands und des Balkans. [...]

Aufgabe eines kulinarischen Historikers ist es, in jedem Fall aufzuzeigen, wer was von wem übernommen hat.


[...] Ein Großteil der heutigen griechischen Küche geht auf die jahrhundertelange osmanische Herrschaft zurück. Ein Beleg hierfür ist die große Zahl von griechischen Speisenamen, die sich aus dem Türkischen ableiten: dolmathes, gefüllte Gemüse, von dolma; pilafi, Reis, von pilav; keftedes, Hackfleischklößchen, von köfte; tsoureki, süßes Brot, von çörek; yuvetsi, Schmortopf, von qüvec; tsatziki, Gurken-Joghurt-Salat, von cacik; lukoumades, Fettgebäck, von lokma; bourekakia, Teigtaschen, von börek - die Liste ließe sich beinahe endlos fortsetzen. Die Behauptung, daß sich hinter diesen Namen ursprünglich griechische Gerichte verbergen, denen die osmanischen Herrscher ihre eigenen Namen gaben, ist wenig stichhaltig. Wie andere unterworfene Völker genossen auch die Griechen ein hohes Maß an kultureller Autonomie unter den Osmanen, und es findet sich in keinem anderen Bereich des griechischen Vokabulars eine vergleichbare Gruppe von Lehnwörtern. [...]
Die unverfänglichste Schlußfolgerung, die sich zu diesem strittigen Punkt der griechisch-türkischen Beziehungen treffen läßt, ist wohl die, daß beide Völker ihre ganz verschiedenen Beiträge leisteten zu einer kulinarischen Synthese, die während der osmanischen Herrschaftszeit zur höchsten Perfektion gelangte. [...]

Wenn wir die stolze hellenistische Behauptung mißachten, daß Griechenland selbst geographisch gesehen eine eigene Welt darstelle und daher nicht zum Balkan gehöre, läßt sich Griechenland als der einzige Balkanstaat mit einer Mittelmeerküste bezeichnen. Dennoch ist es gerechtfertigt, die meisten Landstriche des ehemaligen Jugoslawien sowie Albanien mit ihren Landesküchen mediterran zu nennen. Die Adria, an der sie liegen, ist in Wirklichkeit ein riesiger Meeresarm des Mittelmeers. Überdies wurzeln die kulturellen und kulinarischen Merkmale der Balkanländer größtenteils in einer nach Süden ausgerichteten Orientierung zur wirklichen mediterranen Welt.

[...] Es entbehrt daher nicht einer gewissen Ironie, daß die widerstreitenden Volksgruppen [des Balkans] im wesentlichen die gleiche Küche haben, die auf die osmanischen Türken zurückgeht. Das Vordringen der Türken auf dem Balkan begünstigte die Entwicklung der Landwirtschaft, da die Steuern für die Bauern drastisch gesenkt und Straßen zu den wichtigsten Städten angelegt wurden. Die Küche, die sie den Balkanstaaten bescherten, war die Manifestation einer allen gemeinsamen Lebenshaltung, die sich während der osmanischen Herrschaft entwickelte; das ästhetische Bewußtsein, die Bedeutung der Familie, der Häuser- und Städtebau waren bei Muslimen und Christen - trotz gegensätzlicher Religionen - weitgehend identisch. Die gemeinsame Küche ist auch der dauerhafteste Aspekt des osmanischen Erbes auf dem Balkan; [...] die Serben essen [...] Gerichte, die ihnen ausgerechnet die Türken hinterließen.
Es versteht sich von selbst, daß der kulinarische Einfluß der Türken in den Regionen am stärksten ausgeprägt ist, wo die Mehrheit der Bevölkerung den islamischen Glauben der Osmanen annahm - Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und Albanien. Vor 1992 hätte sich dies leicht durch einen Besuch im Ascinica belegen lassen, einem beliebten Restaurant in der Bascarsija, dem mittlerweile zerstörten Zentrum der Altstadt von Sarajevo. Die dort servierten Speisen - deftige Suppen, pilav, gefüllte Gemüse, Eintöpfe und riesige Tabletts mit Käse-börek - entsprachen genau dem Angebot eines durchschnittlichen anatolischen Restaurants. Und in allen zentralen und südlichen Landstrichen des früheren Jugoslawien waren türkische Gerichte verbreitet wie cevapcici, gehacktes Lamm- oder Rindfleisch auf Spießen, die türkischen şiş köfte; djuvec, das Schmorgericht, dem wir bereits in Griechenland begegnet sind; sarma, gefüllte Kohlblätter; poğaca, Teigtaschen; und kaymak, angedickte Sahne, die zumeist zu Nachspeisen gegessen, mitunter aber auch zu Brot gereicht wird.
Andererseits haben bestimmte serbische Spezialitäten, die Schweinefleisch enthalten, aus naheliegenden Gründen keine Beziehung zu den Osmanen. Beispiele hierfür sind: plieskavi-ca, gegrillte Hackfleischklößchen aus Schweine- und Kalbfleisch; raznjici, Spieße mit Schweine- und Kalbfleisch; und bosanski lonac, ein bosnischer Eintopf aus Rind, Schwein, Lamm, Kalbsfüßen und Speck. Die nordserbische Provinz Wojwodina hat eine große ungarische Bevölkerungsgruppe, was sich auch in der Küche niederschlägt. Türkische kulinarische Einflüsse fehlen auch weitgehend an der dalmatinischen Küste von Kroatien, wo man seit jeher eine enge Beziehung zu Italien auf der anderen Seite der Adria hatte, [...]. In Dalmatien sind daher Pasta-Gerichte sehr beliebt, und die Region ist bekannt für einen Schinken, der stark an prosciutto erinnert. Und sobald wir in das nach Norden ausgerichtete Kernland Kroatiens kommen, verlassen wir eindeutig die kulinarische Domäne des Mittelmeerraums und betreten den Einflußbereich der schwerverdaulichen germanischen Küche.
Albanien ist durch Isolation, Kommunismus und die anarchische Auflösung der kollektiven Landwirtschaft in der nachkommunistischen Ära dreifach verarmt. Die linguistischen Zeugnisse lassen jedoch auf eine generelle Übereinstimmung mit türkischen kulinarischen Vorbildern schließen.


(Bildquelle: Wikimedia Commons)

3 Kommentare:

  1. Ich bin mir nicht ganz sicher, was für Gerichte die türkischen Reiter- und Nomadenstämme aus Zentralasien in das christliche und griechischsprachige Byzanz mitgebracht haben.

    Aber ich vermute, dass es nicht allzuviele gewesen sind. Die meisten der o.g. Gerichte dürften schon vorher bekannt gewesen sein, nur dass sie im Laufe der Jahrhunderte türkische Namen bekommen haben. Sind sie deswegen nun original türkisch ?

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  2. vielen Dank, dass Du Dir so viel Mühe machst, sogar über die Balkanküche zu berichten. Finde deine Seite gut und informativ.
    Viel Erfolg weiterhin
    saliha BALKAN

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  3. @Anonym Nr. 1: Ich habe nicht behauptet, alle Gerichte wären nun "original türkisch", also zentralasiatisch, sondern ich habe geschrieben, oder zitiert, dass einige Gerichte aus Zentralasien mitgebracht wurden, und schon während der Völkerwanderung durch Usbekistan, Iran, Irak, Aserbaidschan, Armenien, Syrien, und schließlich Anatolien diverse Einflüsse aufgenommen haben, bereichert wurden, ganz neue Gerichte hinzukamen (auch byzantinische Gerichte), und so weiter.
    Einige zentralanatolische Gerichte Gerichte haben sich stark verändert, einige sind ersetzt worden, einige haben sich sogar fast oder ganz bis heute erhalten.
    Und als dann das Osmanische Reich expandierte, mächtiger wurde, wurden aus all den Einflüssen diverser Küchen des Balkans und des Nahen Osten, mit all den Gewürzen und Speisen, die in die mächtige Hauptstadt und Handelszentrum zusammenkamen, bisherige Gerichte teilweise stark weiter entwickelt, und es entstanden auch neue Gerichte. Lokale Spezialitäten entwickelten sich, beeinflussten sich gegenseitig und eine raffinierte Palastküche entstand, die sich teilweise nur die Reichen erlauben konnten.
    Die anderen städtischen Zentren des Reiches übernahmen teilweise auch die Istanbuler Küche, ahmten sie nach, nicht nur in Architektur, sondern auch in Innenarchitektur, bereicherten diese ggf. auch durch lokale Traditionen, und so flossen neben modischen Erscheinungen, künstlerischen Vorlieben, und so weiter die einst nach Istanbul geflossenen Einflüsse oft in veränderten Form wieder in die Provinzen zurück. Lokale z.B. serbische Gerichte wurden durch diese neuen Rezepte dann beeinflusst, oder auch nicht. Im Zuge des Nationalismus und der Unabhängigkeitsbewegungen des Balkans war aber natürlich alles "türkische" schlecht, und wurde verdammt, und wurde teilweise auch umgedeutet, indem behauptet wurde, dieses und jenes war eigentlich original aus dem Balkan, und kein Erbe der Osmanen. Hilfreich war die gleichzeitige Purifizierung der Sprache, also das Entfernen von turkisierten Wörtern aus dem Wortschatz (gleiche Feindbildstrategie wurde übrigens auch in der jungen Türkei gefahren). Dennoch können wir heute eine Reihe von Gerichten z.B. des Balkans feststellen, die ursprünglich aus dem Zentrum oder über das Zentrum des Osman. Reiches in den Balkan gelangten. Ebenso natürlich auch Gerichte in Anatolien, die aus dem Balkan kamen oder aus dem Byzantinischen Reich überlebten, z.B. diverse Fischgerichte.

    Ich kenne die ewig langen und teilweise erbitterten Diskussionen im Netz zwischen oft (nicht immer) recht nationalistischen Türken, "Balkanesen", Arabern, Kurden, Armeniern, Iranern, usw., wenn es darum geht zu behaupten, dieses ist "mein" Gericht, und so weiter. Leider bleibt es oft nur bei Behauptungen und sehr laienhaften linguistischen Vorgehensweisen, oder es wird auf andere Webseiten verwiesen, die nicht seriös sind (auch wenn diese z.B. manchmal staatlich sind, werden dort nicht selten unseriöse Folgerungen z.B. von dubiosen populärwissenschaftlichen Büchern einfach unkritisch übernommen. Dies betrifft nicht nur Seiten des Balkans, sondern auch türkische Seiten).
    Daher habe ich hier mal versucht in der Literatur mir einigermaßen (!) seriös erscheinende Aufsätze der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen, um eine Diskussion vielleicht besser zu beleuchten.

    @Saliha: Danke für dein Lob!

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