Dienstag, 21. Juni 2011

Islam und Wissenschaft. Ein Gegensatz? Gründe für den Niedergang der Blütezeit des Islams

Das Auge nach Hunayn ibn Ishaq, ca. 1200

Heute möchte ich den Blick auf eine kürzlich abgehaltene Konferenz der Universität Cambridge richten:


Does Islam Stand Against Science? - Steht der Islam gegen die Wissenschaft?

Dazu gibt es in "The Chronicle" eine hervorragende Zusammenfassung, dich ich hier auszugsweise zum Anlass nehme, einige Fragen zu erörtern.
  • Sind Islam und Wissenschaft per se ein Widerspruch? Wie sieht es heute aus?
  • Was sind die Gründe dafür, dass die mittelalterliche wissenschaftliche Blütezeit des Islams niederging?
  • Was waren die Gründe für deren Aufstieg?
Bevor ich zu dem Bericht des "Chronicles" komme, vorab erst einmal eine deutschsprachige Analyse:

Ich hatte schon in diesem Posting Islam Teil Europas? auf einen kostenlosen Austellungskatalog (PDFs) aufmerksam gemacht:


Wissenschaft und Technik im Islam

Band I.
Institut für Geschichte der Arabisch-Islamischen Wissenschaften
an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main


Veröffentlichungen des
Institutes für Geschichte der Arabisch-Islamischen Wissenschaften
Herausgegeben von Fuat Sezgin, 2003



weitere Bände siehe hier.

Das Frankfurter Institut für Geschichte der Arabisch-Islamischen Wissenschaften erreicht man hier.


Fuat Sezgin stellt in seinem Kapitel "Beginn des Stillstandes und Begründung für das Ende der Kreativität" einige Thesen für sowohl den Aufstieg der Wissenschaften in der islamischen Welt, als auch deren Abstieg vor. Dazu muss man sagen, dass diese nicht alle unumstritten sind, bzw. weitere Thesen im Umlauf sind, also bitte nicht ohne weitere Recherchen von Gegenstimmen diese als gegeben oder als alleinige Mehrheitsmeinung annehmen.

Eines der herausragendsten Erbschaften des islamischen Kulturraumes ist die Form, wie Wissenschaft betrieben wurde (eben anders als noch unter den Griechen üblich), und wie wir sie in Abwandlungen noch heute betreiben, quasi "Forschung á la arabica":
Zu den Merkmalen des Gelehrtentums im arabisch-islamischen Kulturkreis gehörten ein klarer  Begriff  von  einem  Entwicklungsgesetz  im Bereich der Wissenschaften, die Gepflogenheit, Quellen  nicht  zu  verheimlichen,  sondern  sie geradezu peinlich genau zu zitieren, eine Ethik der gerechten Kritik, die Verwendung des Experimentes  als  systematisch  herangezogenes Hilfsmittel  bei  der Arbeit,  die  Schaffung  und Erweiterung wissenschaftlicher Terminologien, die Beachtung des Prinzips vom Gleichgewicht zwischen  Theorie  und  Praxis  und  langjährige astronomische Beobachtung mit Hilfe der in islamischer  Zeit  enstandenen  Sternwarten.  Mit der  Gründung  von  Universitäten  fanden  diese Merkmale  und  Prinzipien  ihre  vornehmsten Pflegestätten.
Folgende Faktoren meint Prof. Sezgin im Spiel zu sehen, das den Aufstieg der islamischen Welt begründen könnten:

  1. Die Araber waren offenbar im frühen Islam, parallel zu ihrer Aufbruchstimmung und Siegeszuversicht, von einem starken Wissensdurst durchdrungen, sie waren lernbegierig und aufnahmefähig.
  2. Die neue Religion, die diesen Geist widerspiegelt, hat die Wissenschaften nicht behindert, sondern gefördert.
  3. Umaiyadische, ‘abbasidische und weitere Staatsmänner haben die Wissenschaften vielfach unterstützt.
  4. Kulturträger anderer Religionen wurden nach der Eroberung ihrer Heimat von den Muslimen korrekt behandelt, geschätzt und an der neuen Gesellschaft beteiligt.
  5. Schon vom ersten Jahrhundert an entwickelte sich in der islamischen Gesellschaft eine einzigartige, fruchtbare Lehrer-Schüler-Beziehung, wie sie dem Abendland im Mittelalter und darüber hinaus unbekannt geblieben ist. Die Schüler lernten nicht nur aus Büchern, sondern in direkter Unterweisung vom Lehrer. Das erleichterte den Lernvorgang und bürgte für verläßliche Kenntnisse.
  6. Naturwissenschaften und Philosophie, Philologie und Literatur wurden von vornherein in profanem Sinn gepflegt und getrieben, nicht zu theologischem Zweck. Die Beschäftigung mit den Wissenschaften war kein Privileg des Klerus, sondern stand allen Berufsgruppen offen. So sind in  der bio-bibliographischen Literatur die Hauptnamen der meisten Wissenschaftler des arabisch-islamischen Kulturkreises Berufsbezeichnungen wie Schneider, Bäcker, Tischler, Schmied, Kameltreiber oder Uhrmacher.
  7. Schon im 1./7. Jahrhundert begann ein öffentliches Unterrichtswesen in den Moscheen. Im 2./8. Jahrhundert besaßen bedeutende Philologen, Literaten und Historiker eigene Lehrstühle (ustu-wana, «Säule» genannt) in den Hauptmoscheen. Die Berichte, die uns über die Art und Weise der Vorlesungen und Diskussionen dieses Lehrbetriebes erreicht haben, zeugen von hohem akademischem  Stil. Jene Moscheen entwickelten sich spontan zu ersten Universitäten, bis es im 5./11. Jahrhundert zur Gründung staatlicher Universitäten kam.
  8. Der Charakter der arabischen Schrift erlaubte es, leicht und schnell zu schreiben und ermöglichte dadurch eine weite Verbreitung von Büchern.
  9. Eine sich schnell und gründlich entwickelnde Philologie lieferte den Gelehrten eine solide Basis zum Redigieren ihrer Schriften und zum Umgang mit fremden Sprachen.
  10. Die Übernahme und Aneignung fremder Terminologien schärfte den Blick für exakte Definition  und wissenschaftliche Präzision und führte zur Schaffung eigener arabischer Fachwörter und Fachsprachen.
  11. Unterstützt wurde die schriftliche Überlieferung durch die traditionelle Papyrusindustrie, die bereits seit dem ersten Jahrhundert der Hiddschra ausgebaut wurde, und später dann durch die Gründung von Fabriken zur Herstellung des von den Chinesen übernommenen Papiers als Schreibmaterial, das in der islamischen Welt eine enorme Verbreitung gefunden hat (s.u.S. 175ff.).
  12. Von  großem  Nutzen  war  auch,  im  4./10. Jahrhundert, die Entwicklung einer besseren und beständigeren Tinte aus einer Mischung von Eisengallustinte (Galläpfel, Vitriol, Gummi arabicum und Wasser) mit Ruß, die eine tiefschwarze  Schrift  ermöglichte, welche farbecht und haltbar war, ohne im Lauf der Zeit blaß oder braun zu werden.

Dann lässt Sezgin keinen Zweifel, dass er im Islam keinen Hauptgrund für den Niedergang der Wissenschaften sieht:

Es ist ungerecht, wenn öfter von einer  wissenschaftsschädigenden Wirkung  der Religion im allgemeinen oder der Orthodoxie, der Theologie, der Mystik im speziellen gesprochen wird. Bei solchen Überlegungen läßt man außeracht,  daß  sich  der  bekannte  Anfangsschwung in der Entwicklung der arabisch-islamischen  Wissenschaften  Jahrhunderte  lang unablässig  fortgesetzt  und  die  Kreativität  bis zum 16. Jahrhundert nicht nachgelassen hat. Es  ist  im  Gegenteil  darauf  hinzuweisen,  daß man mit keinerlei Reaktion von Seiten der Theologie  zu  rechnen  hatte,  wenn  man Aristoteles Jahrhunderte  lang  den  «ersten  Meister»  (al-mu‘allim  al-auwal)  genannt  hat,  und  häufig pflegte man die Namen der großen griechischen Gelehrten wie Archimedes, Galen oder Apollonios mit dem respektvollen Attribut «der ausgezeichnete» (al-fadil) zu versehen. ...

Es ist wohl denkbar, daß ein Leser, der die arabische Literatur gut kennt, sich an dieser Stelle an das Werk von Abu Hamid al-Ghazzali (gest. 505/1111) mit dem Titel Tahafut al-falasifa erinnert, in dem dieser einige Ansichten griechischer und arabischer Philosophen, einschließlich solcher von al-Farabi und Ibn Sina, widerlegt hat. In diesen Widerlegungen kommt die Skepsis zum Ausdruck, die sich nach gründlichem Studium der Philosophie bei einem orthodoxen Theologen gebildet hat. Wenn al-Ghazzali auch in der Sache heftig reagierte, so hielt er sich doch von Beschimpfungen fern, und außerdem und vor allem war dies eine individuelle Reaktion, keine institutionelle. Eine offizielle Bekämpfung und Verurteilung, wie die des Averroes an der Pariser Universität oder das Aristoteles-Verbot von  Papst  Innozenz  III.  aus  dem  Jahre  1209 wäre in der islamischen Welt undenkbar gewesen.
Vielleicht ist es nicht unnütz darauf hinzuweisen, daß die Freiheit und die Würdigung, die christliche und jüdische Gelehrte unter den Umaiyaden und den frühen ‘Abbasiden genossen, und ihre Teilnahme am wissenschaftlichen Aufschwung  auch  in  späteren  Jahrhunderten ungestört andauerte. Zudem konnten sie wichtige  Funktionen  im  Staat  übernehmen  und  sich von Persien bis Andalusien frei bewegen und ihren Beruf ausüben, wo immer sie wollten, von einer kurzfristigen Intoleranz unter den Almohaden in Cordoba abgesehen. Der Leibarzt des Herrschers al-Malik an-Nasir al Salahaddin (Saladin) und dessen Sohnes al-Malik al-Afdal war der berühmte jüdische Arzt und Philosoph Ibn Maimun (Maimonides, gest. 601/1204). Aus der Mitte des 6./12. Jahrhunderts wird berichtet, daß es in Bagdad drei große Ärzte mit Namen Hibatallah gab, den Christen Hibatallah b. Sa‘id Ibn at-Tilmidh, den Juden  Abu l-Barakat Hibatallah b. Malka und den Muslim Hibatallah b. al-Husain al-Isfahani. Unter diesen  dreien wurde der christliche Hibatallah, der Direktor des ‘Adudi-Krankenhauses und Vorstand der christlichen  Gemeinde  war,  vom  Kalifen  al-Mustadi’  (reg.  566/1170-575/1180) zum Vorstand der Ärzteschaft berufen und mit der Berufsprüfung der Ärzte Bagdads und seiner Umgebung  betraut.
Für die arabisch-islamische Kultur war es nicht ungewöhnlich, daß der Muslim und Medizinhistoriker Ibn Abi Usaibi‘a wie auch der christliche Historiker Ibn al-‘Ibri im 7./13. Jahrhundert über diese drei Ärzte unterschiedlicher  Religionszugehörigkeit  unterschiedslos mit großer Anerkennung geschrieben haben. Die kulturhistorische Bedeutung der in der islamischen Welt herrschenden Atmosphäre der Toleranz wird deutlich, wenn man sich klarmacht,  daß  im  Jahre  1241  im Abendland  ein Christ exkommuniziert werden konnte, wenn er sich von einem jüdischen Arzt behandeln ließ.

Die vorangehenden Erklärungen und Beispiele sollen dazu dienen, meine Überzeugung zu stützen, daß der Islam als Hauptgrund für den Rückgang oder das Ende der produktiven wissenschaftlichen  Tätigkeit  im  arabisch-islamischen  Kulturkreis  auszuschließen  ist.  Nach meiner Überzeugung kann die Religion schwerlich den Fortgang der Wissenschaften in einem Kulturkreis  ernstlich  gefährden,  wenn  der  Prozeß des Aufschwungs einmal seine eigene Dynamik entwickelt und unter günstigen Bedingungen seinen Weg gefunden hat.
Danach macht Fuat Sezgin einige externe Faktoren für den Niedergang verantwortlich, als da wären: Kreuzzüge, kurz danach die Expansion des mongolischen Weltreichs mit der Zerstörung Bagdads, Entdeckung des Seeweges nach Indien und Fernost, sowie Amerikas, Einnahme von Portugal und Spanien durch die Christen. Interessant in dem Zusammenhang die mir nicht bekannte Tatsache, dass die Portugiesen nicht die "Entdecker" des Seeweges um Afrika sein sollen, denn es soll schon eine arabische See-Handelsroute von Südmarokko bis China existiert haben. Außerdem macht Sezgin den Buchdruck, das perspektivische Zeichnen, und noch einige weitere Gründe für den Aufstieg Europas verantwortlich, so dass der islamische Raum überholt werden konnte. Es wäre zuviel um es hier auch noch zu zitieren.

Einen Grund möchte ich noch dazu anführen: Die weitflächige Vernichtung von Ackerflächen und Bewässerungssystemen - unter anderem durch die Völkerwanderungen. (siehe vorletzten Link.)


Fliesenfeld aus Iznik, Osmanisches Reich, 16. Jh.

 Kommen wir zu einigen interessanten Zitaten des oben erwähntem Chronicle-Artikels:

We may think the charged relationship between science and religion is mainly a problem for Christian fundamentalists, but modern science is also under fire in the Muslim world. Islamic creationist movements are gaining momentum, and growing numbers of Muslims now look to the Quran itself for revelations about science.

Science in Muslim societies already lags far behind the scientific achievements of the West, but what adds a fair amount of contemporary angst is that Islamic civilization was once the unrivaled center of science and philosophy. What's more, Islam's "golden age" flourished while Europe was mired in the Dark Ages.

This history raises a troubling question: What caused the decline of science in the Muslim world?

... They discussed a wide range of topics: the science-religion dialogue in the Muslim world, the golden age of Islam, comparisons between Islamic and Christian theology, and current threats to science. The Muslim scholars there also spoke of a personal responsibility to foster a culture of science.
...Islam has a long and tangled history with science, but there's one point that nearly everyone acknowledges: Science in the Muslim world is now in a sorry state. ...
Data collected by the World Bank and Unesco confirm this bleak assessment. A study of 20 member states of the Organization of the Islamic Conference found that these countries spent 0.34 percent of their gross domestic product on scientific research from 1996 to 2003, which was just one-seventh of the global average.

Those Muslim countries have fewer than 10 scientists, engineers, and technicians for every 1,000 people, compared with the world average of 40, and 140 for the developed world. And they contribute only about 1 percent of the world's published scientific papers. Another study of OIC nations found that scientists in 17 Arabic-speaking countries produced a total of 13,444 scientific publications in 2005, which was 2,000 fewer than what just Harvard University produced.

... Some of the debates about Islam and science resemble American arguments over science and religion, but there are also specific differences. For one thing, the New Atheist critique of religion is virtually absent in the Muslim world.

... Many Muslims are especially bothered by evolution. By and large, Islamic culture is creationist, judging by a 2008 survey about evolution in six Muslim countries: Egypt, Indonesia, Kazakhstan, Malaysia, Pakistan, and Turkey. On average, only about 15 percent of the respondents in five of those countries considered evolution to be "true" or "probably true." In the sixth country, Kazakhstan, roughly one-third of the respondents accepted evolution, but an equal number also said they had "never thought about it."
... This rejection of evolution has a lot in common with American creationism, but there are also key differences.
... The strongest creationist movement has emerged in Turkey, even though evolution has been taught in high schools for decades—a legacy of Atatürk's campaign to secularize Turkey's public culture. Harun Yahya (the pen name of Adnan Oktar) has built a sophisticated media empire that distributes creationist books, articles, videos and Web sites around the Muslim world.
... "In fact, it's much more international, much more successful, and has a command of a much larger financial base than any American creationist organization."

... Muslim faith has probably always been bound up with science. In fact, many Muslims point to Islam's golden age—which lasted roughly 500 years—as proof that there's no conflict between Islam and science. ...
"If you talk to Muslims today, very often they will bring up history," says Guessoum. "We are fascinated and to some degree obsessed about the history of science. One reason is that most Muslims feel that Islamic civilization was not given its due." This collective chip on the shoulder may be a response to what Dallal calls the Orientalist views of previous generations of scholars. In this older narrative, according to Dallal, the scientific advances of the golden age were credited to outside influences rather than Muslim culture itself. ...

[Dabei muss ich bemerken, dass das sogenannte Goldene Zeitalter nicht selten auch seitens vieler Muslime überhöht wird. Sowenig wie man behaupten kann, dass die Araber nur "Postboten" des antiken Wissens waren, wie es früher hier oft gedacht wurde, so stimmt es ebenso wenig, dass die Renaissance komplett nicht hätte stattfinden können, hätte es die Araber nicht gegeben.]

Then rigid Islamic thinkers took hold, culminating with the 11th-century theologian al-Ghazali, whose orthodox views sent science tumbling into a downward spiral from which it has never recovered. "But historians of science realize this theory makes no sense," says Dallal. "It might sound logical, but the actual historical record shows there's no decline of science. The actual golden age of the sciences in the Muslim world is somewhere in the 13th and 14th centuries." ...

[Diese Verschiebung der Länge des wissenschaftlich produktiven Zeitalters habe ich auch schon in den letzten Jahren öfters gelesen. Scheinbar ergaben Auswertungen der Archive einen Wechsel der vorherigen Ansichten oder Einschätzungen.]

By now a new generation of scholars has concluded that the Muslim world did more than simply save and transmit Greek knowledge to the Europeans who later launched the Scientific Revolution. "Whole fields needed to be invented from scratch, such as algebra and the science of optics," says Guessoum. "Medicine and astronomy were also greatly pushed forward."


... Why, then, did the Scientific Revolution break out in Europe and not the Islamic world? Or, to put it another way, what caused the decline of science in the Muslim world? ...

There's no simple answer, though there are myriad explanations: the absence of universities in the Muslim world, the slow adoption of the printing press, the relative poverty of Muslims compared with Europeans, increasing deference to religious leaders, and more recently, the legacy of colonialism and the squelching of democracy.

Today's scholars don't blame Islam itself for the decline of science, but point instead to the culture of authority that pervades all aspects of the Muslim world, including science and religion. They suggest that the real story may be less about Islamic decline than about the rise of a newly prosperous and capitalist Europe. As Guessoum says, "Money always plays a role in science." ...

(Steve Paulson is executive producer of Wisconsin Public Radio's nationally syndicated program To the Best of Our Knowledge. He is author of Atoms and Eden: Conversations on Religion and Science, published last year by Oxford University Press.)

Ich hatte schon in einem vorigen Blogpost einen interessanten Artikel gepostet, der dasselbe thematisierte, also der gegenwärtige desaströse Zustand der arabischen akademischen Welt, die Gründe für den Aufstieg der arabisch-islamischen Wissenschaften, die möglichen Gründe für den Niedergang der islamischen Welt:

Rainer Tetzlaff: Europas islamisches Erbe. 
Orient und Okzident zwischen Kooperation und Konkurrenz.
Hamburg 2005.

Dieses PDF beschreibt zahlreiche interessante Aspekte, und wirft die These auf, dass einer der (endogenen) Gründe für den Niedergang der Wissenschaften im islamischen Kulturraum die Lehrplanänderungen in den osmanischen Universitäten (medresen) sein könnten. Denn es sei festgestellt worden, dass unter den Osmanen durchaus noch ein hohes wissenschaftliches Niveau zumindest bis ins 16. Jahrhundert hinein erreicht werden konnte, auch wenn die Originalität und die Neuschöpfung von Wissen langsam zurückging, und meist tradiertes Wissen weiter gegeben wurde. Als sich dann die Lehrpläne änderten, zusammengestrichen wurden, engstirniger wurden, ging innerhalb weniger Generationen dieses Wissen verloren, zumal in der gleichen Zeit die wissenschaftliche Explosion im christlichen Europa auf ihre ersten Höhepunkte zusteuerte.

Der Autor meint, dass unser Geschichtsbild endlich aktualisiert werden müsste, in Bezug auf die Leistungen der mittelalterlichen islamischen Welt, wie es oben im "Chronicle" auch schon gefordert wurde:

Daher ist dem französischen Weltsystemhistoriker Fernand Braudel zuzustimmen, wenn er die Ansicht vertritt, dass „das traditionale Bild vom genial eigenschöpferischen Abendland, das als einziger Kulturraum den Weg der technisch-wissenschaftlichen Vernunft beschritten hatte (Braudel: Der Handel 1986, 617), endgültig aufgegeben werden müsse“. Dieses eurozentrische Weltbild unserer Schulen und Universitäten müsse revidiert werden, fordert auch der in Frankfurt forschende Sprachwissenschaftler und Kulturhistoriker Fuat Sezgin. Denn die moderne Kulturgeschichtsforschung habe zeigen können, dass Europa vermittelt über italienische Hafenstädte ... sehr viel „von der Pracht und Herrlichkeit" des Islams des 11. und 12. Jahrhunderts“ übernommen hat, ...(Braudel, Handel 1986, 617f.).

Bei all dem muss man bedenken, dass noch Millionen teilweise ungesichteter arabischer Manuskripte in den Archiven lagern. Wer weiß, welche Wissenstransferketten noch entdeckt werden, welche unserer Wissenschaftler in hohem Maße von arabischen Vorgängern profitierten oder gar plagiiert haben? Einige christliche Wissenschaftler wurden ja schon als "Plagiatoren" entlarvt, z.B. Konstantin aus Afrika.
Ist es denkbar, dass wir die Plätze, Straßennamen, Denkmäler und Statuen dieser Plagiatoren aus unseren Städten entfernen und dafür die wahren arabischen wissenschaftlichen Urheber der vermeintlich abendländischen Entdeckungen und Forschungen ehren? Wohl kaum. Eigentlich schade.

Ein Artikel der New York Times geht auf diesen Umstand ein (schon älter, von 2001):

How Islam Won, and Lost, the Lead in Science

Commanded by the Koran to seek knowledge and read nature for signs of the Creator, and inspired by a treasure trove of ancient Greek learning, Muslims created a society that in the Middle Ages was the scientific center of the world. The Arabic language was synonymous with learning and science for 500 hundred years, a golden age that can count among its credits the precursors to modern universities, algebra, the names of the stars and even the notion of science as an empirical inquiry.
''Nothing in Europe could hold a candle to what was going on in the Islamic world until about 1600,'' said Dr. Jamil Ragep, a professor of the history of science at the University of Oklahoma.
It was the infusion of this knowledge into Western Europe, historians say, that fueled the Renaissance and the scientific revolution.
... But historians say they still know very little about this golden age. Few of the major scientific works from that era have been translated from Arabic, and thousands of manuscripts have never even been read by modern scholars. Dr. Sabra characterizes the history of Islamic science as a field that ''hasn't even begun yet.''
Islam's rich intellectual history, scholars are at pains and seem saddened and embarrassed to point out, belies the image cast by recent world events. Traditionally, Islam has encouraged science and learning. ''There is no conflict between Islam and science,'' said Dr. Osman Bakar of the Center for Muslim-Christian Understanding at Georgetown.

Why didn't Eastern science go forward as well? ''Nobody has answered that question satisfactorily,'' said Dr. Sabra of Harvard. Pressed, historians offer up a constellation of reasons. Among other things, the Islamic empire began to be whittled away in the 13th century by Crusaders from the West and Mongols from the East.
Christians reconquered Spain and its magnificent libraries in Córdoba and Toledo, full of Arab learning. As a result, Islamic centers of learning began to lose touch with one another and with the West, leading to a gradual erosion in two of the main pillars of science -- communication and financial support.
In the West, science was able to pay for itself in new technology like the steam engine and to attract financing from industry, but in the East it remained dependent on the patronage and curiosity of sultans and caliphs. Further, the Ottomans, who took over the Arabic lands in the 16th century, were builders and conquerors, not thinkers, said Dr. El-Baz of Boston University, and support waned. ''You cannot expect the science to be excellent while the society is not,'' he said.
Others argue, however, that Islamic science seems to decline only when viewed through Western, secular eyes. ''It's possible to live without an industrial revolution if you have enough camels and food,'' Dr. King said.
''Why did Muslim science decline?'' he said. ''That's a very Western question. It flourished for a thousand years -- no civilization on Earth has flourished that long in that way.'' ...


In einem Artikel der Zeitschrift "Middle East Quarterly" von 1996 wird dieser Frage ebenfalls nachgegangen, wobei auch hier der Islam nicht als Hauptgrund für den Niedergang und die heutige Situation der Wissenschaft im islamischen Raum gesehen wird:

Why Does the Muslim World Lag in Science?

 ... Islam is not, however, the key problem facing scientific achievement in the Muslim world. ...

[hingegen werden 10 Faktoren genannt:]

  1. Demographics
  2. Language
  3. Education
  4. Research
  5. State-owned corporations
  6. Professional societies
  7. Resources
  8. Authoritarianism
  9. Regional cooperation
  10. Government incompetence
Lest bei Interesse die ausführlichen Erläuterungen dieser Gründe in dem Artikel nach.

Außerdem möchte ich noch auf die Muslimheritage Internetpräsenz verweisen, die einige hervorragende Artikel gesammelt hat, vor allem deren Fußnoten und Literaturhinweise erweisen sich als eine Fundgrube für weitergehende Recherchen. Allerdings sind vielleicht 20-30% der Artikel dort durchaus mit Vorsicht zu genießen, da allzu beschönigend, oder unsauber zusammengeschrieben, oder etliche Faktoren unberücksichtigt gelassen, oder unseriöser Autor, und so weiter.
Dazu gehört auch eine Ausstellung, die von Großbritannien ausgehend um die Welt zieht, und grad in Los Angeles Station gemacht hat:
1001 Inventions Exhibition

Weitergehende Informationen kann man auch dem Wikipedia-Artikel oder deren Verlinkungen entnehmen:
Islam and science

Was wir den Arabern verdanken, dazu komme ich später nochmal...


(Bildquellen: Wikimedia Commons)

3 Kommentare:

  1. Super Beitrag!!! Ich beschäftige mich zur Zeit sehr intensiv mit diesem Thema und finde es toll, dass du es hier thematisiert hast!

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  2. Danke dir sehr, dass du so viele Quellen angegeben hast! Es hat mir in meiner Literatur-Recherche wirklich geholfen :)
    Toller Beitrag!

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