Donnerstag, 25. August 2011

Islamische Philosophie - 1. Teil

Ibn Sina (Avicenna), einer der größten
Universalgelehrten des Islams aus dem 11. Jh.
Hier ein Blatt aus seinem berühmten
Kanon der Medizin.
Kopie aus dem Jahre 1597/98 n. Chr.


Ich finde es immer wieder spannend, wenn sich durch neue Forschungsergebnisse tradierte Geschichtsbilder ändern. So auch in der islamischen Philosophie. Alte Gewissheiten der Philosophiegeschichte müssen in einigen Punkten revidiert werden, und obwohl man noch viel erforschen muss, stellt sich einiges heute anders dar, als noch vor einigen Dekaden.
Des weiteren möchte ich hier einige einführende Texte in die islamische Philosophie zitieren und einige bedeutende philosophische Vertreter aus dem islamischen Kulturraum in dieser Artikelserie kurz vorstellen.

Gute Bücher für den Einstieg:


Wolfgang Günter Lerch: Denker des Propheten. Die Philosophie des Islam. Patmos Verlag, Düsseldorf 2000.

Ulrich Rudolph: Islamische Philosophie. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. C. H. Beck, München 2004.
(in googlebooks weit einsehbar)

Aus letzterem einige Auszüge aus dem Vorwort:

Denn schließlich waren sie [die Muslime] es, die das antike Erbe durch die griechisch-arabischen Übersetzungen (ab dem 8.Jh.) bewahrt hatten und später an das lateinische Mittelalter weitergaben (vor allem im 13.Jh.). Diese Perspektive bestimmte das Forschungsinteresse bis in  die Mitte des 20. Jahrhunderts. Es konzentrierte sich folglich auf den Zeitraum (9.-12.Jh.) und auf die muslimischen Denker (Kindî, Fârâbî, Avicenna und Averroes), von denen man sich  Aufschlüsse über das europäische Mittelalter versprach. Was danach in der islamischen Welt geschah, war – so gesehen –  irrelevant. Also fand es auch kein wissenschaftliches Interesse.
Viele Forscher vertraten sogar die Ansicht, dass es vom 13. Jahrhundert an (wegen der Rückeroberung Spaniens durch die Christen und/oder wegen der kritischen Äußerungen Ghazâlîs) gar keine Philosophie mehr im islamischen Kulturkreis gegeben habe.
Diese Auffassung wurde seit der Mitte des 20. Jahrhunderts zunehmend erschüttert. 


Federführend war dabei Henry Corbin, der eine völlige Umwertung der Geschichte der islamischen Philosophie vornahm. Sie betraf vor allem die Zeit nach 1200. In ihr sah er keineswegs die Zeichen eines Niedergangs oder eines Endes. Im Gegenteil: Für ihn war dies die Epoche, in der sich die islamischen Autoren endlich auf ihre eigentliche Bestimmung besannen. Jetzt hätten sie sich nämlich von den Fesseln eines griechisch geprägten Denkens befreit und andere, ihren Zielen angemessenere Konzepte aufgenommen. Damit meinte Corbin, dass sich die Philosophie zu einer Weisheitslehre entwickelt habe, in die Elemente aus der Mystik, dem schiitischen Gedankengut und einer spezifisch orientalischen Theosophie eingegangen seien. Der Schauplatz dafür war nach seiner Ansicht Iran, das ohnehin auf eine alte spekulative Tradition (die er als prägende Kraft im Hintergrund des schiitischen Denkens vermutete) zurückblicken konnte. Deswegen habe sich hier eine spirituelle Geistigkeit herausbilden können, die als die wirkliche «islamische» Philosophie zu betrachten sei.
Corbins Thesen hatten zur Folge, dass zahlreiche scheinbare Gewissheiten hinterfragt wurden. Vor allem wiesen sie der Forschung einen Weg, sich von der herkömmlichen Fixierung auf die europäische Geistesgeschichte zu befreien. Der Preis für diese Horizonterweiterung war jedoch hoch. Denn Corbins Ansatz eröffnete nicht nur neue Perspektiven; er trug auch dazu bei, den Blick zu verengen. Seine Vision einer spezifisch «islamischen» Philosophie und Weisheitslehre ersetzte nämlich die alte, eurozentrierte Sichtweise durch einen anderen, orientalisieren den Geschichtsmythos und nahm außerdem noch die Preisgabe eines eindeutigen Begriffs von Philosophie in Kauf.

Die jüngere Forschung geht deswegen erneut andere Wege.
Sie postuliert zwar ebenfalls, dass es nach 1200 eine Philosophie in der islamischen Welt gegeben habe, meint aber nicht, dass sie als Bruch mit den früheren Denkern zu verstehen sei. Vieles spricht vielmehr dafür, dass sich gerade damals anhaltende Lehrtraditionen, die sich auf ältere Autoren beriefen, herausbildeten. Sie verstanden die Philosophie nach wie vor als eine rationale Wissenschaft, die um die Frage nach den allgemeinen Zusammenhängen des Denkens und des Seins kreist. Für das 13. Jahrhundert ist das bezeugt. Doch auch für die Zeit danach scheint man eine solche Entwicklung voraussetzen zu können. Sie dauerte offenkundig über die Jahrhunderte fort und reicht in bestimmten Regionen der islamischen Welt bis in die Gegenwart.

Wie diese Entwicklung im Einzelnen verlief, ist allerdings bislang nicht untersucht. Hier steht die Forschung immer noch vor großen Aufgaben. Sie können nur mit gemeinsamen Anstrengungen gelöst werden. Das geschieht derzeit beispielsweise in einem Projekt, das im Zusammenhang mit der Neubearbeitung des Grundriss der Geschichte der Philosophie von Friedrich Ueberweg geplant ist. Dort sind drei Bände über die Philosophie in der islamischen Welt vorgesehen. In ihnen sollen alle Epochen, Regionen und Traditionen (einschließlich der jüdischen und der christlichen Autoren, die in der islamischen Welt gewirkt haben) zur Sprache kommen. Auf diese Weise soll das Material bereitgestellt
werden, auf dem die künftige Forschung aufbauen kann.

Aus dem Brockhaus 2007:

Islamische Philosophie: Vollmacht und Grenzen der Vernunft

von Prof. Dr. Gerhard Endress

Das Gesetz des Islam ist gegründet auf Offenbarung - auf den Koran als den Text der Offenbarung, ergänzt durch überlieferte Weisungen und Handlungen des Propheten, die Sunna. Aber in seiner Ausgestaltung, Systematisierung und Formulierung ist es das Ergebnis geschichtlicher Erfahrung und rationaler Durchdringung. Die Vernunft sucht die Regel im Besonderen des Rechtsfalles; sie sucht Einsicht in die göttliche Vernunft, - hinter dem Unfasslichen der Offenbarung - Theologie. Wo hat die Vernunft die Grenzen ihrer Erkenntnis zu setzen? Über den Anwendungsbereich und universalen Anspruch des rationalen Wissens kam es zwischen Juristen, Theologen und Philosophen zum Konflikt.

In den geistigen Zentren der islamischen Vielvölkergesellschaft bürgerten sich in der Anwendungslehre der offenbarten und überlieferten Rechtsquellen zunächst die Schlussfiguren der Logik ein, wie sie der Hellenismus - die griechische Wissenschaftskultur - der byzantinischen und iranischen Eliten bot und im Dialog einsetzte. In der Verteidigung des Islam und im Dienst der Offenbarung sahen die frühen Theologen die vornehmste Anwendung der Vernunft. Indessen hat die arabische Übertragung der antiken Wissenschaftsquellen eine zweite - philosophische - Bewegung islamischer Wissenslehre vorbereitet. Ihre Grundlage war der arabische Aristoteles: Logik, Wissenschaftslehre, Naturphilosophie und Weltsystem nach der Überlieferung und Deutung der Spätantike. Aristoteles' Werke wurden ergänzt durch Schriften Plotins und seiner Schüler, der »Neuplatoniker«, die die Schöpfung als ewiges »Ausströmen« der ersten Ursache darstellten. Die islamische Philosophie durchschritt drei entscheidende Phasen: Zunächst war sie Ideologie der angewandten Wissenschaften, suchte Harmonie mit der Religionsgemeinschaft; im 10. Jahrhundert wurde sie zur universalen Theorie der Religion und des religiösen Staates entwickelt und schließlich zur Religion für Intellektuelle erhöht.

Der Naturwissenschaftler al-Kindi zeigte im 9. Jahrhundert, dass mit den Argumenten der Philosophie das Bekenntnis des Islam, die Einsheit Gottes, unwiderleglich zu demonstrieren war: Alles, was ist, setzt die eine, erste Ursache voraus. Wie die philosophisch gebildeten Ärzte sah er im Streben nach Wissen das höchste Ziel menschlichen Handelns, den Weg zum wahren Glück. Gegenüber der Philosophie der Praktiker aus Medizin und Mathematik gründete al-Farabi ein Jahrhundert später einen neuen, an der Logik des Aristoteles orientierten Begriff der Philosophie als Beweiswissenschaft. Er stiftete die Philosophie des Islam, indem er Offenbarung und Prophetie in eine umfassende Theorie des Kosmos und der Erkenntnis einbezog: Wie die universelle Logik zur Einzelsprache, so verhält sich die absolute Vernunfterkenntnis zum wahren Symbol der Offenbarung für die Religionsgemeinschaft, die durch den Propheten als Weg zur Wahrheit für alle gegeben ist. Der Philosophenkönig (nach Platons Buch vom Staat neu konzipiert) bewahrt den Staat durch Wissen; ohne Philosophie ist die religiöse Staatsgemeinde auf die Nachfolge des Propheten im Glauben verwiesen, doch durch die Zweifel der Deutung und die Anfechtungen der Irrlehre gefährdet. Ohne Einsicht in die universale Seinsordnung kann das Gemeinwesen, auch unter dem Islam, nicht Bestand haben.

Als Vollender des philosophischen Weltbildes im Islam kann Ibn Sina (Avicenna) gelten; er schrieb zu Beginn des 11. Jahrhunderts die Enzyklopädie des alten Wissenschaftskanons neu und deutete das Wort der heiligen Schrift als Symbol der absoluten Wahrheit in der Begrifflichkeit des Aristotelismus; Avicenna präzisierte den Gottesbeweis mithilfe der Theologie: Alles Zeitlich-Mögliche bedarf einer ersten Ursache, die ewig-notwendig ist; mit seiner ewigen Ursache koexistiert ewig das Weltganze. Aber dem Schöpfungsglauben war seit jeher die Ewigkeit der Welt anstössig; denn sie war unvereinbar mit dem Glauben an einen Gott, dessen Willen und Wort die Schöpfung an den Beginn der Zeit setzt. Wenngleich neu begründet, bleibt diese Lehre auch in Avicennas Philosophie die Zielscheibe theologischer Kritik.

Es war Avicennas Interpretation des philosophischen Weltbildes, die die Philosophie, schließlich auch die Theologie des islamischen Ostens prägte. Aber zunächst formulierte der große Theologe des 11./12. Jahrhunderts al-Ghasali deren maßgebliche Zurückweisung. Zwar stellte er die Logik der Philosophen - ein neutrales Instrument - in den Dienst der religiösen Wissenschaft. Aber nach anfänglicher Annäherung an die Philosophie Avicennas wies er die Kosmologie der Philosophen - die Lehre von der Ewigkeit der Welt - zurück; sein Buch von der »Haltlosigkeit« der Philosophie war ein Signal, das weithin und nachhaltig wirkte. Vor der unermesslichen Weisheit Gottes wies er den absoluten Wissensanspruch der Philosophie in die Schranken. Sie unterwarf den Willen des Allmächtigen den Beschränkungen menschlicher Vernunft und Moral. Eine schwere innere Krise führte Ghasali zur Aufgabe seines Lehramts an der angesehensten Bagdader Rechtsschule und zum radikalen Zweifel an der Gewissheit der Vernunft. Er erkannte den Weg des Heils in der Nachfolge der Sufija, der Mystiker: den Weg der Gottesfurcht, der Enthaltsamkeit und der Meditation.

Die traditionistische Bewegung, die seit dem 11. Jahrhundert um sich griff, und für die auch Ghasali sprach, einigte soziale Schichten, ethnische Gruppen, pragmatische und mystische Frömmigkeit; aber sie beschränkte auch die Vielfalt geistiger Auseinandersetzung. Die Hüter der islamischen Lehrüberlieferung verpflichteten Recht und Staat auf die Beobachtung der Sunna, der von ihnen kodifizierten Prophetentradition, als letzter Instanz, entwickelten subtile Methoden der Analogie und Auslegung und verurteilten die Anmaßung der souveränen Vernunft: Überlieferung wurde hier zum Gegenpol der Vernunft. In der Lehrstätte des orthodoxen Rechts, der Medrese, entstand die Institution dieser Bewegung; stets einer der anerkannten Lehrtraditionen gewidmet und den Weisungen hochgestellter Stifter folgend fungierte sie als religiöses und zugleich politisches Lenkungsinstrument der Führungsschicht. Die islamische Rechtgläubigeit hat nicht in der Dialektik der Theologen (dem Kalam) ihren allgemein gültigen Ausdruck erhalten, sondern in der Auslegung des Rechts. Andererseits hat die Sprache der Philosophie als Instrument der Kritik Ghasalis den Weg zur Hellenisierung der Theologie, und damit zur Scholastik des Islam bereitet. Seine Kritik der Philosophie mit ihren eigenen Mitteln hat auch die Theologie geprägt. Die Philosophie Avicennas und die Kritik Ghasalis führten zur fortwährenden, gegenseitigen Durchdringung von Theologie und Philosophie. Die Theologie musste die Ewigkeit der Welt, den alten Stein des Anstoßes, eliminieren. Erst um dem Preis der Unterordnung im Dienst der Theologie konnte die philosophische Lehre ihren Platz in einem Kanon erringen, der als Lehrstoff der Rechtsschule, der Medrese, gesichert blieb.

Der spanisch-arabische Philosoph Averroes war der letzte Verteidiger des absoluten Anspruchs rationaler Wahrheitsfindung. Seine Verteidigung des philosophischen Weltbildes gegenüber der Kritik des Ghasali und sein leidenschaftliches Plädoyer für die Wesensgleichheit des philosophischen Glaubens mit der offenbarten Religion - »Der Wahrheit widerspricht die Wahrheit nicht!« - begründen seinen Rang als Vollender der Philosophie hellenistischen Erbes im Islam; das monumentale Kommentarwerk zu Aristoteles begründete seinen Nachruhm bei den europäischen Philosophen des Mittelalters: ein groß angelegtes Unternehmen zur Rechtfertigung des Aristoteles gegenüber abweichenden Lehrmeinungen, zur Verteidigung der wahren Philosophie.

Die im Osten des Mittelmeers nie abgerissene Überlieferung des griechischen Erbes bewährte sich demnach als Tradition der rationalen Wissenschaften, die mit den religiösen Wissenschaften des Islams konkurrierten, sich an ihnen abarbeitete und sie durchdrangen, und deren gemeinsame Formen der Vermittlung die aufsteigenden Universitäten des Westens befruchten konnten.

(Bildquelle: Wikimedia Commons)

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