Montag, 29. August 2011

Islamische Philosophie - 4. Teil

Ibn Sina nach einer Handschrift
von 1271

Heute möchte ich einige der bedeutenden oder wirkmächtigen Vertreter der islamischen Philosophie kurz vorstellen, sowie zwei Antworten von Gelehrten auf die Philosophie oder die Erfahrungen ihrer Zeit.

Aus:
Adel Theodor Khoury, Ludwig Hagemann und Peter Heine: Islam-Lexikon. Geschichte - Idee - Gestalten. Freiburg, Basel, Wien, Band 1-3, 1991.

Ibn Ruschd - (lat.) Averroes

Der berühmteste mittelalterliche Kommentator des Aristoteles, Naturwissenschaftler, Philosoph und Theologe, Ibn Rushd (lat.: Averroes), wurde 1126 in Cordoba geboren und starb 1198 in Marrakesch. Aus einer andalusischen Juristenfamilie stammend erhielt er zunächst eine Ausbildung im islamischen Recht malikitischer Prägung, studierte jedoch auch Medizin. Schon früh wurde ferner sein Interesse für die Philosophie deutlich. Seit 1153 lebte er in Marrakesch, wo er sich zunächst mit Astronomie befaßte. In diesem Zusammenhang kam er wohl zum ersten Mal intensiver mit den Werken des Aristoteles in Berührung. Der Almohadenherrscher Abu Ya'qub Yusuf I. (1163-1184) war es, der den jungen Mann alsbald förderte, indem er ihn zum Qadi und Ober-Qadi in verschiedenen Städten des Almohadenreiches berief, ihn aber zeitweise auch zu seinem Leibarzt machte. Auch unter dem Nachfolger von Abu Ya'qub, Ya'qub al-Mansur (1184-1199), fand er noch eine Zeitlang herrscherliches Wohlwollen. Seine letzten Lebensjahre waren jedoch durch eine Reihe von Verfolgungen verdüstert. Vor allem aus politischen Gründen verlor er die Unterstützung des Herrschers. Seine Lehren wurden für nicht mit dem Islam in Übereinstimmung erklärt und seine Bücher verbrannt. Allerdings erlebte er noch kurz vor seinem Tode seine formelle Rehabilitierung.

Die kaum abschätzbare Bedeutung, die der lateinische Averroes für die Entwicklung der mittelalterlichen europäischen Scholastik hatte, kontrastiert zum Einfluß des arabischen Ibn Rushd auf die islamische Geisteswelt. Hier liegt wohl auch die Ursache dafür, daß die Mehrzahl seiner Werke in lateinischer, zum Teil auch in hebräischer Sprache und nicht in arabischer Sprache, überliefert worden sind. Von grundsätzlicher Bedeutung für die Mehrzahl seiner Arbeiten ist die Tatsache, daß er sich den Werken des Aristoteles nicht über Kommentare und Rezeptionen näherte, sondern direkt auf die Texte selbst zuging. Die problematische Position der Philosophie in der islamischen Geisteswelt hat dazu geführt, daß von manchen westlichen Gelehrten die Meinung vertreten worden ist, daß Ibn Rushd in seinen Aristoteles-Kommentaren unter dem Deckmantel der Wiedergabe aristotelischer Gedanken seine eigenen Vorstellungen zum Ausdruck gebracht habe. Eines seiner zentralen Themen war die Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Glauben. Immer wieder versuchte er, mit Hilfe von Koran-Zitaten und anderen Belegen aus den autoritativen Texten des Islams die prinzipielle Übereinstimmung dieser beiden Begriffe im Hinblick auf die Wahrheit zu beweisen. Für ihn besteht kein Gegensatz zwischen der Wahrheit des Glaubens und der der Wissenschaft, auch wenn dies auf den ersten Blick so scheinen mag. Ibn Rushd hat sich mit der Kritik, die von islamischen Rechtsgelehrten an der Philosophie geübt wurde, scharf auseinandergesetzt, ist mit seinen Argumenten jedoch nicht durchgedrungen. Daher ist seine Wirkungsgeschichte im Gegensatz zum Abendland in der islamischen Welt nur sehr gering.

Literatur:

  • R. ARNALDEZ, La pensée religieuse d'Averrroes. 1-3, in: Studia Islamica 8 (1957)-10 (1959)
  • ANKE VON KÜGELGEN, Averroes und die arabische Moderne, Leiden 1994
  • F. E. PETERS, Aristoteles Arabus, Leiden 1968
  • S. M. STERN / A. HOURANI (EDS.), Islamic Philosophy and Classical Tradition, London 1972
  • R. WALZER, Greek into Arabic, Oxford 1962.


Autor: P. Heine




Ibn Taimiyya

Zu den bedeutendsten Vorbildern und Vorläufern eines islamischen Fundamentalismus gehört der 1236 in Harran/Syrien geborene und 1328 in Damaskus gestorbene Gelehrte Ibn Taymiyya. Er erhielt eine gründliche traditionelle Ausbildung im Bereich der hanbalitischen Rechtsschule und arbeitete sich daneben in die Lehren der anderen Rechtsschulen, der islamischen Mystik und Philosophie ein und erwarb gute Kenntnisse in der häresiographischen Literatur. Er war ein begabter religiös-politischer Agitator, der von den politischen Kräften seiner Zeit zur Aktivierung der Massen gegen die drohende mongolische Gefahr eingesetzt wurde, durch seine kompromißlose Haltung gegenüber religiösen Minderheiten und von ihm als häretisch eingestuften Gruppen, aber auch zu beträchtlicher politischer Unruhe in Syrien beitrug und dafür mehrfach eingekerkert wurde.
In seinen Schriften versuchte er die drei islamischen Strömungen seiner Zeit, die von dogmatischen Theologen, Traditionalisten und Mystikern vertreten wurden, zu harmonisieren. Im dogmatischen Bereich legte er vor allem Wert auf die Form, in der der Koran Allah beschreibt. Jede Form von »Ta'til« (die Negierung von Attributen Gottes) oder »Tashbih« (Vergleich Gottes mit seinen Geschöpfen) lehnte er als Form des Polytheismus ab. Ähnlich verhielt er sich zu den anderen beiden Strömungen. Immer dann, wenn er hier den Eindruck hatte, daß die Einheit Gottes in Frage gestellt wurde, machte er seine Kritik deutlich. Im Bereich des täglichen Lebens und des politischen Handelns sah er die Altvorderen des Islams (salaf), vor allem die vier »rechtgeleiteten Khalifen«, Abu Bakr, 'Umar, 'Uthman und 'Ali, als die wichtigsten Vorbilder an. Sie besitzen für ihn mehr Autorität als die Gründer der Rechtsschulen oder andere bedeutende Theologen. Obwohl er der Meinung war, daß die Einheit von Staat und Religion (din wa-daula) für den Muslim unabdingbar sei, forderte er doch keinen einheitlichen islamischen Staat mit einer entsprechenden zentralen Führung, da der Muslim seiner Meinung nach nur Gott und dem Propheten Muhammad folgen dürfe. Die islamische Gemeinschaft kann nach seiner Ansicht aus einer Gemeinschaft von zahlreichen Staaten bestehen. In seiner Staatslehre stellte er fest, daß jeder Führer (imam) Vertreter, Patron, aber auch Partner seiner Untertanen sei. Er müsse dafür sorgen, daß sie die Regeln und Pflichten des Islams verstehen, akzeptieren und befolgen, wobei die jeweiligen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse in Betracht gezogen werden müssen. Jedes Mitglied der islamischen Gemeinde habe das Recht und die Pflicht, seine Glaubensbrüder in allen Bereichen, in denen er über Kompetenz verfügt, zu beraten und »das Gute zu fördern und das Schlechte zu verhindern« (amr bi-l- ma 'ruf wa nahy 'an al-munkar). Er hat dabei jedoch darauf zu achten, daß die Einheit und Einmütigkeit der Gemeinde gewahrt bleibt. Diese Haltung überrascht angesichts der Praktiken, die Ibn Taimiyya selbst zur Durchsetzung seiner Ideen anwendete.
Auch seine wirtschaftlichen Vorstellungen betonten die Notwendigkeit zur Solidarität unter den Muslimen. Er befürwortete das Privateigentum, stellt aber zugleich fest, daß die Reichen den Armen helfen sollen, und befürwortet, an die Stelle von wirtschaftlicher Konkurrenz die Prinzipien von Kooperation und gegenseitiger Hilfe zu setzen.
Die Realitätsbezogenheit der Überlegungen Ibn Taimiyyas sind wohl die Ursache dafür, daß sie von modernen Muslimen bereitwillig angenommen wurden; denn auch seine Zeit war eine Epoche des Umbruchs, in der die islamische Welt der Gefahr einer Invasion durch die fremde Macht der Mongolen ausgesetzt war. Seine Vorstellungen dienten der Stärkung der islamischen Gesellschaft. Der Gefahr einer zivilisatorischen Invasion sehen sich auch manche gegenwärtige Muslime ausgesetzt. Sie erfahren in den Lehren Ibn Taimiyyas eine Möglichkeit, dieser Herausforderung erfolgreich zu widerstehen. Seine Gedanken bilden heute die Struktur vieler Entwürfe für eine islamische Gesellschaft, wie man sie bei mehr oder weniger radikalen fundamentalistischen Muslimen finden kann. Daher kann man Ibn Taimiyya als den einflußreichsten muslimischen Denker des Mittelalters bezeichnen.

Literatur:

  • H. LAOUST, Essai sur les doctrines sociales et politiques d'Ibn Taimiyya, Kairo 1939
  • H. LAOUST, Contribution à une étude de la méthodologie canonique d'Ibn Taymiyya, Kairo 1939
  • H. LAOUST, Les schismes dans l'Islam, Paris 1965

Autor: P. Heine



Einige Ausschnitte aus Ulrich Rudolph: Islamische Philosophie. 2004:


Ibn Taimîya

Andere Autoren ließen sich erst gar nicht auf diese sondierende Form der Kritik ein. Sie meinten vielmehr, dass man die Philosophie insgesamt (d. h. einschließlich der Logik) ablehnen müsse. Das markanteste Beispiel für diese Haltung ist wohl Ibn Taimîya (gest. 1328). Er war zwar ein eifriger (und kluger) Leser philosophischer Texte, zog aus ihnen aber Schlüsse, die den Intentionen der Philosophen diametral entgegenstanden. Am auffälligsten geschieht das in einem Text, der unter dem Titel Die Widerlegung der Logiker bekannt wurde. Dort versucht Ibn Taimîya in aller Ausführlichkeit zu zeigen, dass die aristotelische Logik ein unbrauchbares, auf falschen Annahmen beruhendes Argumentationssystem sei (wobei die Einwände detaillierter sind als bei Suhrawardî). Aber damit nicht genug. Darüber hinaus möchte er offen legen, welch gravierende Folgen das Studium des Organons nach sich gezogen habe. Es soll nämlich den größten Teil der islamischen Gelehrten in die Irre geführt haben: die Philosophen ohnehin; aber leider auch viele von der Philosophie verwirrte Theologen; außerdem all jene Vertreter des Sufismus, die meinten, sich Ibn al-‛Arabîs Lehre von der Ein(s)heit des Seins anschließen zu müssen.
Ibn Taimîya bekämpfte also nicht nur die Philosophie. Er bekämpfte vor allem den Einfluss der Philosophen. Insofern ist seine harsche und weit ausholende Kritik ein deutliches Indiz dafür, wie groß deren Wirkungsradius inzwischen gewesen sein muss. Die Zahlen bestätigen das auch. Gerade im 13. und 14. Jahrhundert entstanden – neben den Traktaten zur Logik – eine Fülle von Schriften zur Physik und zur Metaphysik. Sie belegen eindrücklich, dass die Philosophie nicht nur in den Reflexionen der Theologen oder der Sufis weiterlebte, sondern nach wie vor eine eigene intellektuelle Disziplin war.


Abu Ishaq al-Schatibi

Das man auf die Krise des Kalifats unter anderem durch externe Feinde wie die Mongolen und christlichen Spanier auch theologisch anders reagieren konnte, als durch fundamentalistische Reaktionen wie es zum Beispiel Ibn Taimiya machte, zeigt sich im Beispiel am anderen Ende des islamischen Kulturraumes, und zwar in Andalusien, bei Abu Ishaq al-Schatibi (gest. 1388). Dieser hat nun den Koran anders gedeutet, indem er Verse, die früher von Muhammad meist in Mekka empfangen wurden eine größere Bedeutung zumaß, quasi darin die Essenz des Willens Gottes sah, und später in Medina empfangene Verse eher kontextbezogen, an Zeit und Raum gebunden betrachtete. Denn es gibt ja durchaus etliche Verse im Koran, die zu einem gleichen Thema unterschiedliche Aussagen treffen. Viele Gelehrte haben allerdings bis heute trotz der Schwierigkeit eine unumstrittene Chronologie der Verse zu rekonstruieren es oft so gehandhabt, dass jüngere (oft konkretere) Verse die älteren (eher allgemeineren) Verse aufhoben, Abrogation genannt. Also die Stellen im Koran bei mehrdeutigen Angelegenheiten bindend wurden, die in Medina gesandt wurden, und die mekkanischen Suren dadurch in ihrer Aussage ignoriert wurden.
Anders al-Schatibi, der dieses Vorgehen umdrehte und meinte, in den älteren und oft allgemeiner gehaltenen Suren würde man eher das erkennen, was Gott als übergeordnet betrachtet, als wichtiger ansieht. Und jüngere oft medinensische Anweisungen eben nur in der bestimmten historischen Situation ihrer Offenbarung Geltung hatten und nicht leichtfertig verallgemeinert werden durften. Es sei denn, sie hatten in älteren Aussagen im Koran keine Entsprechung, keinen Widerspruch, dann waren sie natürlich bindend. Dadurch ergab sich eine größere Flexibilität in der Auslegung des Glaubens und der Glaubenspraxis, eine größere Bandbreite an Handlungsweise und eine gewisse "Liberalität". Diese Ansicht wurde offenbar dadurch befördert, dass nun in Andalusien mehr oder minder erstmals Muslime in Gebieten wohnten, die durch die Christen erobert wurden. Sich also mehreren Fragen in ihrer Diaspora gegenüber gestellt sahen.
Mir ist nicht bekannt, inwieweit in der islamischen Welt diese theologische Herangehensweisen und seine Gedanken damals Verbreitung fanden. Vielleicht ist auch noch viel mehr zu erforschen, um dieser Frage nachzugehen, denn es ist ja erst ein Bruchteil an Schrifttum jener Zeit überhaupt katalogisiert. Jedenfalls ist festzuhalten, dass eine ganze Reihe der islamischen Reformer des 19. und 20. Jahrhunderts auf die existentiellen Krisen durch den Kolonialismus und Imperialismus, sich unter anderem an Ibn Taimiya orientieren, bei ihm die Lösungen für ihre Zeit suchten, und sich eben nicht an al-Schatibi orientierten. Denn ansonsten sähe wahrscheinlich die Welt heute anders aus.


Weitere Ausschnitte aus U. Rudolph: Islamische Philosophie. 2004:

Ibn Sina - (lat.) Avicenna

Also stellt sich die Frage nach dem Grund ihres Seins, die Avicenna zu seiner nächsten Überlegung, einem Beweis für die Existenz Gottes, führt.
Folglich gibt es den Notwendig-Seienden (wâdjib al-wudjûd), der alles andere hervorbringt und der in der religiösen Sprache Gott genannt wird.
Die Dinge, die von ihm hervorgebracht werden, müssen folglich gleichzeitig mit ihm existieren (weil notwendige Wirkungen von ihrer Ursache nicht zu trennen sind). Gott existiert aber von Ewigkeit her, denn er ist ja, wie wir gerade gesehen haben, der Notwendig-Seiende. Also besteht auch die Welt schon immer, da ihr Sein von Ewigkeit her von ihm bewirkt wird.
Diese Folgerung hat Avicenna heftige Kritik eingetragen. Man warf ihm vor, den Aussagen des Korans zu widersprechen und den grundsätzlichen Unterschied zwischen Gott und der Schöpfung zu relativieren. Genau das war jedoch nicht seine Absicht. Seine Überlegungen zielten eher darauf, die ontologische Differenz zwischen Gott und den Geschöpfen herauszuarbeiten und begrifflich schärfer, als das zuvor geschehen war, zu markieren. Gott ist nach Avicennas Auffassung das einzige Seiende, das notwendigerweise existiert.
Indem Avicenna dieser Frage nachgeht, entwickelt er eine Unterscheidung, die Aristoteles nicht kannte. [...] Sie ruht nicht mehr allein auf Vorstellungen, die Aristoteles (und die Neuplatoniker) entwickelt hatten. Vielmehr verbindet sie die traditionelle Seinsanalyse mit konzeptionellen Vorgaben (vor allem der Kontingenzerfahrung und einer theozentrischen Orientierung), die von der islamischen Theologie formuliert worden sind.
Denn Avicenna will nicht nur nachweisen, dass wir eine Seele besitzen, sondern auch Auskunft darüber geben, wie sie beschaffen ist.
Avicenna hat den Weg der Seele zur vollkommenen Erkenntnis in eindringlichen, teilweise an Kontemplation und mystische Erfahrung gemahnenden Worten beschrieben (insbesondere am Ende der Hinweise und Mahnungen). Deswegen wurde ihm von einigen modernen Interpreten unterstellt, zwei verschiedene Lehren vertreten zu haben: eine rationale, an Aristoteles orientierte Philosophie, deren Kulminationspunkt in Die Heilung erreicht gewesen sei, und eine «höhere», von Mystik und unmittelbarer Einsicht inspirierte Weisheitslehre, die aufgrund einer späteren Schrift (Die Östlichen; der Text ist zum Großteil verloren) als «Östliche Philosophie» bezeichnet wird. Diese Interpretation dürfte inzwischen als überholt gelten.
Das Konzept der Intuition erlaubt Avicenna zudem eine weitere Differenzierung. Sie betrifft das Prophetentum, das in der islamischen Gesellschaft ja ebenfalls als Erkenntnisweg anerkannt war und deswegen in einer Epistemologie, die allen Formen des Wissens Rechnung tragen wollte, Berücksichtigung finden musste.
Das Beispiel zeigt sehr schön, wie Avicenna auf die verschiedenen Erwartungen und (religiösen, theologischen, philosophischen) Denkansätze, die er vorfand, eingeht."
"Sie [die Philosopie] bleibt für religiöse Anliegen und theologische Fragestellungen offen. Das ließe sich – von der Prophetie abgesehen – noch an einer Reihe von weiteren Themen nachweisen (Gebet, Traum usw.). Am anschaulichsten dürfte es jedoch sein, wenn man betrachtet, wie sich diese Haltung beim Umgang mit dem Koran bewährt.
Mit Avicennas Entwurf war ein neuer Diskussionsstand erreicht ...




Eine theologische Reaktion:

Al-Ghazâlî

Mit Avicennas Entwurf war ein neuer Diskussionsstand erreicht und eine andere Grundlage für künftige Überlegungen gewonnen. Hatte Fârâbî die religiösen Fragen als partikular eingestuft und deswegen weitgehend aus der Philosophie ausgeklammert; hatten die Theologen seiner Zeit umgekehrt darauf bestanden, dass das rationale Denken der religiösen Überlieferung unterzuordnen sei (vgl. S. 22 mit dem Verweis auf al-Asch‛arî und al-Mâturîdî), so legte Avicenna jetzt ein Konzept vor, das als Synthese oder zumindest als ein Angebot zur Integration verstanden werden konnte, weil es die Autonomie der Philosophie beibehielt und gleichzeitig wichtige Themenfelder aus der Theologie aufnahm.
Das entsprach an sich den Erwartungen, die man an die Philosophie richten konnte. Auf diese Weise wurde sie nämlich für Fragen geöffnet, die sich den Muslimen neu stellten, und blieb nicht auf Problemhorizonte, die schon aus den antiken Texten überliefert waren, beschränkt. Gleichwohl entzündete sich an Avicennas Vorgehen heftige Kritik. Denn sein Versuch, der Philosophie eine umfassende Kompetenz zuzusprechen, irritierte all jene, die an den herkömmlichen Zuständigkeiten festhielten und sich ausschließlich einer einzelnen Disziplin verpflichtet fühlten.
Deswegen ist es auch nicht verwunderlich, dass von den Vertretern dieser Disziplinen jeweils Attacken gegen Avicennas Konzept ausgingen.
Den Anfang machten die Theologen, deren Kritik noch im II. Jahrhundert formuliert wurde. Ihr Wortführer war Abû Hamid al-Ghazâlî (gest. 1111), der zu den herausragenden religiösen
Gelehrten seiner Epoche, wenn nicht der gesamten islamischen Geistesgeschichte zählt. Sein Wirken war ausgesprochen vielseitig, denn Ghazâlî verband eine unermüdliche Produktivität mit einem unsteten, teilweise dramatisch anmutenden Leben. Ersteres dokumentiert sich in seinem breiten OEuvre (Theologie, Recht, Sufismus, Paränese, Polemik usw.). Das zweite wird daran deutlich, dass bei ihm Zeiten des öffentlichen Wirkens und Phasen der völligen Zurückgezogenheit abrupt wechselten. Deshalb sah er sich schließlich sogar gezwungen, seinen Lebensweg in einer autobiographischen Schrift (dem berühmten Erretter aus dem Irrtum) zu rechtfertigen. All das hat die moderne Forschung schon lange beschäftigt. Dabei wurde zurecht betont, dass in Ghazâlîs Werdegang nicht nur das persönliche Ringen eines Gelehrten, sondern auch die intellektuelle Krise eines Zeitalters zum Ausdruck kamen. Diese Krise hatte verschiedene Gründe, aber die Herausforderung, die von der Philosophie ausging, zählte ohne Zweifel zu den auffälligsten unter ihnen. Sie hatte durch Avicenna eine neue Dimension angenommen, so dass sich Ghazâlî vor eine ausgesprochen ernste Aufgabe gestellt sah.
Wie sehr ihn das Problem beschäftigte, zeigt schon die Tatsache,dass er sich nirgends zu einer abschließenden und umfassenden Stellungnahme durchringen konnte. Ghazâlî versucht nämlich gar nicht, die Philosophie als ganze, in sich geschlossene Wissenschaft zu beurteilen. Stattdessen plädiert er dafür, sie in verschiedene Segmente zu unterteilen und diese Segmente dann unterschiedlich zu bewerten.
Einer der Teile, die er dabei ins Auge fasst, besteht aus der Mathematik und der Logik. Sie werden von ihm ausdrücklich gelobt und ohne Einschränkung geschätzt. Denn Ghazâlî meint nicht nur, dass die Philosophen in diesen Bereichen klare Reflexionen und unwiderlegbare Argumente vortrügen, sondern fordert sogar die religiösen Gelehrten auf, es ihnen gleichzutun. Das gilt speziell für die Logik (d. h. das Organon) und innerhalb der Logik wieder für die Beweislehre (d. h. die Zweiten Analytiken). Sie sind für Ghazâlî die Grundlage, auf der jede wissenschaftliche Argumentation aufbauen muss. Deswegen verfasst er selbst zwei Handbücher, Die Richtschnur der Erkenntnis und Der Prüfstein des Denkens, um seine Kollegen in der aristotelischen Logik zu unterweisen. Damit will er erreichen, dass die Theologie (und die Jurisprudenz), methodisch gesehen, auf ein neues Fundament gestellt werden. Sie sollen nicht mehr auf die Anwendung dialektischer Schlüsse beschränkt bleiben – wie es Fârâbî mokant, aber mit einer gewissen Berechtigung unterstellt hatte –, sondern demonstrative Wissenschaften werden, die mit einem umfassenden Beweisanspruch auftreten können.
Ein zweiter Bereich, den Ghazâlî separat behandeln möchte, umfasst die Politik und die Ethik. Sie werden von ihm ebenfalls gewürdigt. Aber hier hält er die Überlegungen der Philosophen nicht unbedingt für originell, sondern eher für allgemein anerkannte Meinungsäußerungen; sie könne man ebenso gut in den Büchern der Propheten, in Weisheitssprüchen und in den Abhandlungen der Sufis finden. Entsprechend einfach glaubt Ghazâlî in diesen Fällen, Gedanken aus der religiösen und der philosophischen Tradition verbinden zu können. Das wird schnell deutlich, wenn er in seinen Schriften auf die genannten Themen zu sprechen kommt. Das auffälligste Beispiel dafür ist sein kleines Handbuch zur Ethik, Die Waage des Handelns, in dem er sowohl auf mehrere philosophische Autoren als auch auf ältere sufische Texte zurückgreift.
Wirklich zum Problem wird die Philosophie demnach nur, wenn man sich ihrem dritten Bereich zuwendet. Er besteht aus der Physik und der Metaphysik, die beide geeignet sein sollen, die Menschen in die Irre zu führen. Für die Physik gilt das noch mit gewissen Einschränkungen: Sie könnte eigentlich studiert werden, ohne dass die Prinzipien der Religion Schaden nehmen. Allerdings müsste dann der Grundsatz anerkannt werden, dass die Kräfte in der Natur nicht selbständig agieren, sondern jederzeit Gottes Willen unterworfen sind (was die Philosophen nach Ghazâlîs Ansicht aber nicht tun). In der Metaphysik ist die Situation dagegen vollends prekär. Denn hier werden nicht nur falsche und ungesicherte Prämissen vorausgesetzt (weil die Philosophen nicht von der Offenbarung ausgehen), sondern auch mangelhafte Argumente verwendet (weil die Philosophen sich selbst widersprechen und von ihren eigenen Theorien geblendet sind). Deswegen wird Ghazâlî nicht müde zu betonen, dass er im Gebiet der Metaphysik die meisten und die gravierendsten Irrtümer seitens der Philosophen sieht.

Auch diese Haltung hat ihren Niederschlag in einer eigenen Schrift gefunden. Gemeint ist das Werk über Die Inkohärenz der Philosophen, das sicher zu den berühmtesten Schriften Ghazâlîs zählt. Es enthält zwanzig Kapitel, die je einen Irrtum der Philosophen anzeigen und analysieren (sechzehn aus dem Gebiet der Metaphysik, vier aus der Physik). Deswegen heißt es in der  Sekundärliteratur häufig, das Werk sei eine umfassende und schonungslose Abrechnung mit der Philosophie. Tatsächlich gibt es aber auch im Rahmen dieses Textes Unterschiede. Denn Ghazali  beharrt zwar in jedem Kapitel darauf, seinen Kontrahenten einen Fehler nachweisen zu können. Aber weder die Art noch das Ausmaß der Verfehlung, die er ihnen vorhält, sind immer gleich. In drei Fällen erscheint ihm der Irrtum der Philosophen als so gravierend, dass er meint, ihn als «Unglaube» einstufen zu müssen (Kap. 1: Die Welt besteht von Urewigkeit her; Kap. 13: Gott kennt die Einzeldinge nur auf allgemeine Weise; Kap. 20: Der Mensch kann mit der Seele, aber nicht mit dem Leib auferstehen).
In neun Fällen genügt Ghazâlî der Vorwurf der «Häresie» (Kap. 2: Die Welt besteht endlos fort; Kap. 3: Die Welt ist nicht geschaffen, sondern durch Emanation entstanden; Kap. 6: Gott hat keine Attribute; Kap. 7: Gott teilt mit nichts anderem das Genus und kann folglich nicht definiert werden; Kap. 8: Bei Gott sind Essenz und Existenz identisch; Kap. 15: Die Bewegung des Himmels unterliegt einem bestimmten, erkennbaren Zweck; Kap. 16: Die Himmelsseelen kennen im Gegensatz zu Gott alle Einzeldinge; Kap. 17: In der Natur ist ein notwendiger Kausalzusammenhang nachweisbar; Kap. 19: Die menschlichen Seelen sind entstanden, aber unvergänglich). In acht weiteren Fällen hingegen meint er gar nicht, dass die Philosophen eine falsche Lehre vertreten hätten. In diesen Kapiteln will er nur nachweisen, dass sie «unfähig » seien, für ihre – an sich richtigen – Ansichten Beweise vorzulegen (Kap. 4: Gott existiert; Kap. 5: Es kann nur einen Gott geben; Kap. 9: Gott ist unkörperlich; Kap. 10: Die Welt muss entstanden sein; Kap. 11: Gott kennt anderes außer sich; Kap. 12: Gott kennt sich selbst; Kap. 14: Der Himmel ist lebendig und gehorcht Gottes Willen; Kap. 18: Die Seele des Menschen ist eine geistige Substanz).

Selbst in Die Inkohärenz der Philosophen versucht Ghazâlî also zu differenzieren. Er verwirft die Physik und die Metaphysik der Philosophen nicht als ganze, sondern möchte aufdecken, welche Gefahren und welche Bruchstellen in ihnen enthalten sind. Dieses Verfahren wurde später zum Vorbild für viele Theologen. Dabei blieben sogar die Bewertungskategorien, die Ghazali vorgeschlagen hatte, noch lange Zeit aktuell. Auch bei Autoren des 13. oder des 15. Jahrhunderts findet sich nämlich die Unterscheidung zwischen: 1) philosophischen Thesen, die aus theologischer Sicht als unzumutbar galten (in der Regel die drei, die Ghazâlî als «Unglauben» gebrandmarkt hatte); 2) solchen, die korrigiert werden müssten und eine intensive theologische Diskussion erforderten (Ghazâlîs «Häresien», insbesondere die These zur Kausalität); und 3) wieder anderen, die durchaus als akzeptabel betrachtet wurden und sogar Eingang in die theologischen Handbücher fanden (Gott als Notwendig-Seiender, die Geschöpfe als Möglich-Seiende, die Geistigkeit und Substantialität der Seele usw.). Wie sich diese Auseinandersetzung im Einzelnen vollzog, kann hier nicht geschildert werden. Denn der Prozess dauerte lange (wenn man überhaupt ein Ende konstatieren kann) und hatte zahlreiche Facetten, deren Beschreibung nicht in die Geschichte der Philosophie, sondern in die Geschichte der islamischen Theologie gehört. Insgesamt kann man jedoch festhalten, dass Ghazâlîs Vorgehen ein viel beachteter Versuch war, auf Avicenna zu antworten. Denn wenn jener eine Philosophie entwickelt hatte, die ernsthaft auf theologische Anliegen eingehen konnte, so schlug Ghazâlî jetzt den umgekehrten Weg vor. Er suchte nach einer Theologie, welche die methodischen Vorzüge der Philosophie (d. h. die aristotelische Logik) nutzte und von einzelnen überzeugenden Thesen der Philosophen (zur Ontologie, Psychologie und Ethik) profitierte – ohne dabei den Vorbehalt aus den Augen zu verlieren, dass das metaphysische System der Philosophen (mit seiner angeblichen Unabhängigkeit von der Offenbarung und seinen scheinbar unwiderlegbaren Argumenten) inkohärent sei und all jene, die ihm blindlings vertrauten, in die Irre führe.


Hier noch eine Hausarbeit, über die ich grad stolperte:
Leben und Werk von al-Ghazâlî von Silvia Al Saad


aus:
Adel Theodor Khoury, Ludwig Hagemann und Peter Heine: Lexikon des Islam. Geschichte - Ideen - Gestalten. Berlin 2001.

Ghazzali

Al-Ghazzali (1059-1111) gilt als einer der bedeutendsten Denker und Theologen des Islams, als großer Reformator unter den Gelehrten. Er wurde im Iran geboren. Er studierte Rechtswissenschaft und Theologie; er gehörte zur Schule der Ash'ariten. An der Hochschule in der Hauptstadt des islamischen Reiches, Baghdad, erhielt er einen Lehrauftrag, den er mit sehr großem Erfolg wahrnahm (um 1092). Die religionspolitischen Wirren dieser Zeit (mörderische Auseinandersetzungen zwischen Schiiten und Sunniten, Streitigkeiten zwischen dem Khalifen und den Seldjuken) verursachten bei ihm eine Krise: Er verfiel dem Skeptizismus. Er schildert selbst seinen Weg aus dem Zweifel zur Gewißheit des Glaubens: Zweifel an den Grundlagen der Erkenntnis (Autorität der Tradition, Sinneswahrnehmungen), aber Gewißheit der ersten Vernunftprinzipien, durch die göttliche Wahrheit garantiert; Kritik an den Methoden der Apologeten, welche sich an den konkreten Bedürfnissen ihrer Widersacher orientieren, an den Thesen der aristotelischen Philosophie, welche in manchen Punkten den Angaben der Offenbarung widersprechen, und an der schiitischen Esoterik; Bejahung der Mystik als Methode zur inneren Vollkommenheit des Menschen, welche eine erlebte Gewißheit vermittelt.
Al-Ghazzali verließ alles und begab sich auf eine lange Reise auf der Suche nach Einsamkeit, Innerlichkeit und geistlichen Erfahrungen. Nach elfjähriger Abwesenheit kehrte er zurück und übernahm an der Hochschule von Nishapur im Iran einen Lehrstuhl (1105). In dieser Zeit verfaßte er sein berühmtes Werk: Die Wiederbelebung der Wissenschaften von der Religion (Ihya' 'ulum al-din). Ghazzali starb in seiner Geburtsstadt Tus im Jahr 1111.
Al-Ghazzali hat sich die Aufgabe gestellt, eine theologische Lehre auszuarbeiten, die zur Belebung des Glaubens und zur Stärkung der Frömmigkeit beiträgt. Darüber hinaus versuchte er, die Mystik mit der Orthodoxie zu versöhnen, indem er das Wissen der Propheten, den Glauben auf der Grundlage der Offenbarung und die mystische Erkenntnis als verschiedene Zugänge zur einzigen Wahrheit Gottes und damit als miteinander vereinbar darstellte. Auch verteidigte er die Suche der Mystiker nach Gottesliebe, die er als das höchste Ziel bezeichnet. In sein Denken fand einiges aus gnostischer Tradition Eingang. Auch vermochte er keine überzeugenden Erläuterungen zu formulieren, die die theologische Wahrheit vom Erlebnis geistlicher Erfahrungen unterscheiden, obwohl er von der Überzeugungskraft der Reflexion ausging und die Wahrheit des Glaubens vor der Verengung durch die Apologetik und vor der Versteifung durch eine kasuistische Rechtswissenschaft zu bewahren suchte.

Literatur:

  • A. J. WENSINCK, La pensée de Ghazali, Paris 1940;
  • M. SMITH, Al-Ghazali the Mystic, London 1944;
  • F. JABRE, La notion de certitude selon Ghazzali, Paris 1958;
  • L. GARDET, Islam, Köln 1968.

Autor: A. Th. Khoury

Für Englischkundige empfehlenswerte weiterführende Informationen zu al-Ghazali und anderen islamischen Philosophen:
Stanford Encyclopedia of Philosophy


(Bildquelle: Wikimedia Commons)

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