Montag, 4. Juli 2011

Buchvorstellung: Thomas Bauer: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams

Der Prophet Muhammad vor der Kaaba in Mekka,
aus dem Siyer-i Nebi, osmanisch, Ende 16. Jh.
Ich bin heute über ein Buch gestolpert, welches ich hier vorstellen möchte, obwohl ich es noch nicht selber gelesen habe. Es passt wie die Faust aufs Auge auf meine vorigen Artikelserien, bezüglich der Themen vom Islam als Missionsreligion, der Behandlung von Minderheiten, der Feststellung, dass im Nahen Osten über die meiste Zeit der Geschichte größere Pluralität im Vergleich zum Abendland herrschte, und auch das Verhältnis zu den anderen Religionen am Beispiel des Osmanischen Reiches.

Wieso es meist so einen offensichtlichen Unterschied der beiden Sphären diesseits und jenseits des Mittelmeeres gab, habe ich hier schon durch einige Thesen zu erhellen versucht. Nun kommt mit diesem Buch eine weitere These hinzu, die aber auch schon in den vorigen Thesen teilweise angeschnitten wurde:

Thomas Bauer: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams. Berlin: Verlag der Weltreligionen im Insel Verlag 2011, ISBN 978-3-458-71033-2.

Der Islamwissenschaftler Stefan Weidner schreibt in seiner Rezension vom Deutschlandradio, dass in der islamischen Geschichte die Mehrdeutigkeit, die Ambiguität, in allen Bereichen der Kultur, auch in der Religion, gepflegt wurde. Dieses hatte zur Folge, dass es meist nicht zu dogmatischen Exklusionen gekommen ist, sondern mehrere "Wahrheiten" nebeneinander existieren konnten. Damit auch scheinbare oder tatsächliche Widersprüche. Anders das Bild im Abendland, wo man wesentlich intoleranter war, und versuchte, diese Doppeldeutigkeiten immer zugunsten einer einzigen Sicht der Dinge aufzulösen, was zur Folge hatte, dass eben die andere Sicht bekämpft wurde, als falsch, fehlerhaft, oder ketzerisch angesehen wurde. Erst mit dem stärkeren Kontakt des Orients mit dem immer übermächtigeren Westen im 19. Jahrhundert, wurde die gesamte nahöstliche Welt und auch der Islam "verwestlicht". Stefan Weidner schreibt:
Der Islam, der uns heute begegnet, ist bereits ein verwestlichter, gleich ob es sich um den Reformislam oder um den Fundamentalismus handelt.
Der Rezensent ist davon überzeugt, dass dieses Buch hervorragend ist sowie auch heutige Irritationen zwischen dem Morgen- und Abendland erklären hilft, denn der Blick des Westens auf den Islam sei verzerrt:

Mit seinem bahnbrechenden Großessay über die "Kultur der Ambiguität" arbeitete Thomas Bauer die Ursachen für die verzerrte Wahrnehmung des klassischen Islams im Westen ebenso wie in der islamischen Welt kulturgeschichtlich auf. ...

... Mittels intimster Kenntnisse des klassischen islamischen Schrifttums entlarvt der Autor die frappante Unwissenheit der Orientalistik alten Stils und der Medien. Er nennt aber auch Gründe dafür, etwa die fehlende Edition maßgeblicher arabischer Literatur. In der Mischung aus überzeugender Grundthese und einschlägigen Beispielen entpuppt sich dieses Buch als eine der besten Einführungen in den Islam seit Langem. Es hat das Zeug zum kulturwissenschaftlichen Klassiker, der sich hinter Edward Saids "Orientalismus" (1978) nicht zu verstecken braucht.
Ich werde im Folgendem noch weitere Einblicke in das Buch geben, denn selbst wenn man es sich nicht kauft, lohnt es sich dessen zentralen Aussagen mal näher zu betrachten. Mehr Einblicke in das Buch vermittelt beispielsweise die Pressemitteilung der Universität Münster:



„Eine andere Geschichte des Islams“
Neuerscheinung von Islamwissenschaftler Thomas Bauer widerlegt westliche Vorurteile – „Die Kultur der Ambiguität“ aus dem Berliner Verlag der Weltreligionen


Das Image des Islams im Westen war seit den Kreuzzügen nie so schlecht wie heute. Das schreibt Islamwissenschaftler Prof. Dr. Thomas Bauer in seinem neuen Buch, das am Montag im Berliner „Verlag der Weltreligionen“ erschienen ist. Es erzählt „Eine andere Geschichte des Islams“, wie der Untertitel sagt. Das Ergebnis: Der Islam war über Jahrhunderte viel toleranter gegenüber unterschiedlichen Werten und Wahrheitsansprüchen, als der Westen meint. Der Autor beleuchtet gut 1.000 Jahre arabisch-islamischer Kulturgeschichte – von Religion, Recht und Politik über Literatur und Kunst bis zum Umgang mit Sexualität und Minderheiten.
Der Experte aus dem Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Universität Münster will das „Zerrbild“ eines politisch und religiös dogmatischen, intoleranten und prüden Islams widerlegen, das der Westen seit dem Zerfall des Ostblocks „als Ersatzfeind“ aufgebaut habe. Unter dem Titel „Die Kultur der Ambiguität“, also der Mehrdeutigkeit, beschreibt Bauer anschaulich und facettenreich die Fähigkeit arabisch-islamischer Gesellschaften, einander widerstreitende Normen nebeneinander stehen zu lassen – ob in der Koranauslegung, Sexualmoral, Dichtung, im Recht oder in Politikdebatten.

„Erst der Kolonialismus des 19. Jahrhunderts übte im Nahen Osten den Druck aus, sich über eindeutige Normen zu definieren, wie es der Westen tat“, so der Wissenschaftler. Wenn der Islamismus heute einen engstirnigen Wahrheitsanspruch vertrete, zeige er damit eine vom Westen erlernte Geisteshaltung. „Es handelt sich nur scheinbar um einen Rückbezug auf ‚traditionelle islamische Werte‘.“ So halte man heute Vorstellungen für islamisch, die in Wahrheit Versatzstücke der viktorianischen Moral seien.
[Siehe dazu auch meinen Blogpost: Wieviel Westen steckt im modernen Islam?]

Falsch ist es den Erkenntnissen des Autors zufolge, von einer „Re-Islamisierung“ im 20. Jahrhundert zu sprechen. Beim Islamismus handle es sich vielmehr um die „Neuschaffung eines intoleranten, ideologischen Islams“, der den totalitären Strukturen früherer westlicher Ideologien folge, die unduldsam gegenüber einer Vielfalt an Anschauungen gewesen seien. Im Westen habe sich das nach 1968 verändert. „An der islamischen Welt aber ging dieser Aufbruch vorüber. Letztlich fehlt dem Islam nicht die
Aufklärung, wie Europa sie im 18. Jahrhundert erlebte, sondern die 68er-Revolte.“

Die Kultur der Ambiguität in Beispielen:
  • Koranauslegung:
    Der Koran enthält zahllose mehrdeutige Textstellen, wie Thomas Bauer in seinem Buch verdeutlicht. Während islamische Gelehrte früherer Jahrhunderte die Varianten als Bereicherung empfanden, ist sie Muslimen heute oft ein Ärgernis, wie der Autor beklagt. „Ob reformorientiert oder fundamentalistisch: Sie glauben stets, die wahre Bedeutung einer Koranstelle zu kennen.“ Der moderne Philologe gehe meist davon aus, dass von zwei Textinterpretationen eine falsch sein müsse; der muslimische Textexeget vergangener Zeiten hingegen habe die Mehrdeutigkeit mancher Textstellen für gottgewollt gehalten, „eine göttliche List, die die Menschen zu ständiger neuer Beschäftigung mit dem Text reizt“. Daher rühre auch die traditionelle Skepsis der Muslime gegenüber Koran-Übersetzungen. Frühere Gelehrte zelebrierten die Auslegungsvielfalt des Koran regelrecht, so Bauer: Sie entwickelten nach seinen Angaben eine Methode, um das ganze Interpretationsspektrum zu erfassen, statt alleingültige Auslegungen festzulegen. Es handelte sich demnach um eine „Wahrscheinlichkeitstheorie“, durch die sich die Kategorien Richtig und Falsch vermeiden ließen. „So entstand ein geduldiges Aushandeln von Ambiguitätskonflikten“, schreibt der Autor. „Mit dem Tempo der einbrechenden Moderne des Westens konnte dieses Aushandeln aber nicht mehr mithalten, und es verschwand in dogmatisch-ideologischen Neukonstruktionen.“
  • Das Bild des Gelehrten:
    Meinungsverschiedenheiten zwischen Gelehrten galten in der klassischen Zeit des Islams als „Gnade für die Gemeinde“, wie Thomas Bauer erläutert. „Heute gelten sie vielen dagegen als auszumerzendes Übel.“ In früheren Jahrhunderten habe das Ideal eines frommen, gottergebenen Gelehrten gleichberechtigt neben dem Ideal eines eleganten, geistreichen Intellektuellen gestanden. Die säkulare Literatur solcher Denker stoße bei ihren modernen Erben jedoch auf großes Unverständnis.
  • Sexualität:
    Der Islam wird nach Beobachtung des Autors heute im Westen oft als „mittelalterlich“ und prüde bezeichnet; er brauche eine sexuelle Revolution nach westlichem Vorbild, heiße es. Doch die Historie zeigt laut Bauer ein anderes Bild: „Schon im 9. Jahrhundert verfassten arabische Mediziner Sexualratgeber. Sie setzten damit eine antike Tradition fort, die erst durch das Aufkommen des Christentums unterbrochen worden war. Über viele Jahrhunderte entstanden arabische sexualhygienische Leitfäden, die sachlich und ohne moralische Bevormundung von Liebe und Sex handelten.“ Zwischen 800 und 1800 seien auch unzählige homoerotische Gedichte als anerkannter Teil der Hochliteratur entstanden. Diese Entwicklung endete erst, als man im 19.Jahrhundert auf die Texte aufmerksam wurde und „sie als Pornografie abwertete“.
    [Siehe dazu auch mein Blogposting: Sexualität im mittelalterlichem Islam]
  • Religion und Politik: Keine anderes Vorurteil hat nach Auffassung des Autors eine so verheerende Wirkung gehabt wie die Vorstellung, der Islam kenne keine Trennung von Staat und Religion. In Wahrheit habe es im Islam „zu jeder Zeit religionsfreie Zonen“ gegeben. Muslime hätten stets zwischen weltlichen und religiösen Dingen zu unterscheiden gewusst. In klassischer islamischer Zeit standen säkulare und religiöse Politik-Diskurse nebeneinander, wie Thomas Bauer zeigt. So finde sich nur eine Handvoll Bücher, die das Thema Herrschaft und Staat aus religiöser Perspektive behandeln. „Dagegen steht eine unüberschaubare Zahl an Gedichten zum Lob von Herrschern sowie eine große Zahl an Herrscherratgebern: Religion spielt darin eine untergeordnete Rolle.“ Der Wissenschaftler spricht sich gegen eine heute verbreitete „Islamisierung des Islams“ aus: Niemand solle dem Islam mehr Religiosität unterstellen als anderen Kulturen. Der oft zitierte Slogan, wonach Islam „Din wa-Daula“, also „Religion und Staat“ sei, kam laut Thomas Bauer erst im 19. Jahrhundert auf, als islamische Länder eine Ideologie suchten, die den starken westlichen Ideologien jener Zeit etwas entgegensetzen konnte. „Überhaupt entspringt der politisierte Islam der Gegenwart einer Geisteshaltung, die sich keineswegs aus traditionellen islamischen Schriften herleiten lässt. Vielmehr haben bei seiner Ausprägung westliche Vorbilder Pate gestanden.“
    [Siehe dazu auch mein Blogposting: Wo Helmut Schmidt sich irrt - Huntington sowie: Islam und Demokratie vereinbar?]
  • Recht:
    Das islamische Recht ist nach Aussage des Autors und Arabisten nicht so starr und dogmatisch wie heute oft dargestellt. „Vielmehr kennt es eine Vielzahl an Normen, die mehr als 1.300 Jahre lang im Alltag von Muslimen erfreulich flexibel angewendet wurde.“ Der Wahrheitsanspruch sei unter Rechtsgelehrten oft hintangestellt worden. Unsicherheit und Widersprüchlichkeit hätten sie nicht ausgemerzt, sondern in Form einer Wahrscheinlichkeitstheorie gezähmt. Durch die Herausforderungen des zunehmend dominierenden Westens hätten Muslime jedoch begonnen, ihr Recht zu ideologisieren und politisieren. „Fundamentalisten und prowestliche Reformmuslime behaupten heute gleichermaßen, das islamische Recht sei eindeutig auszulegen.“ [Siehe dazu auch mein Blogposting: Was ist eigentlich die Scharia?]
  • Dichtung und Rhetorik:
    Arabische Dichter kultivierten über Jahrhunderte raffinierte Formen mehrdeutiger Ausdrucksweisen, wie der Islamwissenschaftler in seinem Buch an vielen Beispielen zeigt. Arabische Sprachwissenschaftler und Rhetoriker sammelten mehrdeutige Wörter und analysierten Stilmittel der Ambiguität. „So entstanden Hunderte von Werken der Rhetorik. Dichter, Gelehrte, Händler, Handwerker und Volksdichter verfassten zigtausende von Gedichten und Prosatexten, in denen sich alle erdenklichen Arten von Ambiguität lustvoll austoben durften.“ Das sei wie ein „Ambiguitätstraining“ gewesen, damit die Menschen auch in anderen Lebensbereichen Mehrdeutigkeit akzeptieren konnten. Heute sähen viele Araber und Orientalisten diese Vielfalt hingegen „als sicheres Zeichen für den Niedergang des Islams“.
Zur Theorie der Ambiguitätstoleranz: 

Der aus der Psychologie stammende Begriff der Ambiguitätstoleranz bezeichnet das
Vermögen eines Menschen, Mehrdeutigkeit auszuhalten, also einander widerstreitende
Werte und Wahrheiten nebeneinander stehen zu lassen, ohne auf die Geltung der eigenen Überzeugung zu pochen.

Das Konzept der Ambiguitätstoleranz lässt sich auf die Kultur- und Mentalitätsgeschichte übertragen, wie Thomas Bauer in seiner Neuerscheinung erstmals zeigt: Alle Kulturen müssen mit Ambiguität leben. Sie unterscheiden sich jedoch stark darin, wie sie mit der Mehrdeutigkeit umgehen. Manche Kulturen vermeiden oder bekämpfen Ambiguität. Andere weisen einen hohen Grad an Ambiguitätstoleranz auf. So wurde im Islam Zweideutigkeit lange hingenommen, ja mitunter bewusst erzeugt. Sie nahm wichtige kulturelle Funktionen ein, etwa in Konventionen der Höflichkeit und der Diplomatie, durch Riten oder Kunstwerke. Seit dem 19. Jahrhundert zeigte sich in islamischen Kulturen jedoch ein Wandel, der so deutlich und mit so drastischen Konsequenzen kaum anderswo auftrat: von einer relativ großen Toleranz hin zu einer bisweilen extremen Intoleranz gegenüber allen Phänomenen von Vieldeutigkeit und Pluralität.

Wer dem Konzept der kulturellen Ambiguität in der Mentalitätsgeschichte folgt, vermag nach Auffassung von Thomas Bauer den eurozentrischen Blickwinkel zu verlassen und Denken, Fühlen und Handeln der Menschen in den Mittelpunkt des Interesses zu stellen, um die es geht. So komme man zu einer alternativen, nicht ziel- und zweckgerichteten Geschichtserzählung. Daher ist auch der Untertitel des Buches „Eine andere Geschichte des Islams“ mehrdeutig zu lesen, wie Bauer hervorhebt. Nicht eine andere Geschichte (history) des Islams erzählt er, sondern eine andere Geschichte (story), in der zugleich
scheinbare Selbstverständlichkeiten der westlichen Kultur in Frage gestellt werden.

Dieses Buch kann als eine Zusammenfassung der Forschungsergebnisse gesehen werden, denn an der Uni Münster läuft schon seit einigen Jahren ein Forschungsprojekt, namens:


Die Kultur der Ambiguität: Eine andere Geschichte des Islam
Die islamische Kultur scheint geradezu das Idealbeispiel einer zur Gänze von religiösen Normen dominierten Kultur zu sein. Allerdings unterscheidet sich das Islamverständnis der Moderne hierin auffällig von dem der klassischen Zeit (d. h. der Vormoderne bis ins 19. Jh.). Während moderne fundamentalistische Richtungen die möglichst vollständige Geltung religiöser Normen in der gesamten Gesellschaft anstreben und dies für die am stärksten islamgemäße Ordnung halten (und hierin von der westlichen öffentlichen Meinung über den Islam bestätigt werden), bietet ein Blick auf die islamische Kultur der Vormoderne ein weitaus komplexeres Bild. Bereits die Gewinnung der Normen aus den autoritativen religiösen Texten zeigt sich als ein diffiziles Verfahren der Disambiguierung, das zahlreiche subjektive Prozesse und rationale Verfahren einschließt. Dass dieses Verfahren zu einem Nebeneinander konkurrierender Normen führte, wurde akzeptiert (vgl. den vielzitierten Prophetenhadith: „Meinungsverschiedenheiten sind eine Gnade für meine Gemeinde“). ...

Bitte hier weiter lesen.

Hier kann man eine weitere Vorstellung des Projektes von 2006 nachlesen.


Es gibt auch eine Leseprobe des Verlages der ersten 31 Seiten: Hier klicken.

Das Inhaltsverzeichnis besteht aus:

  1. Einleitung
  2. Kulturelle Ambiguität (Zum Begriff der kulturellen Ambiguität/ Ambiguität in Philosophie, Sprach- und Literaturwissenschaft/ Ambiguitätstoleranz in der Psychologie/ Ambiguität in den Geschichts- und Sozialwissenschaften/ Formen kultureller Ambiguität im Islam)
  3. Spricht Gott mit Varianten? (Ambiguitätskrisen und Ambiguitätszähmung/ Ibn al-Djazarıs Geschichte des Korantextes/ Eine salafitische Geschichte/ Die unerschöpfliche Vielfalt der Lesarten/ Vielfalt als Gnade/ Vielfalt als Ärgernis/ Die postmoderne Tradition)
  4. Spricht Gott mehrdeutig? (Die Unerschöpflichkeit des Korans/ Die Theologisierung des Islams)
  5. Die Gnade der Meinungsverschiedenheit (Die Wahrscheinlichkeitstheorie der Überlieferung/ Die Wahrscheinlichkeitstheorie des islamischen Rechts/ Das Geschenk der Pluralität)
  6. Die Islamisierung des Islams
  7. Sprachernst und Sprachspiel (Wörter mit Gegensinn/ Raffinement und Frömmigkeit/ Ambiguität als Stigma/ Ambiguitätstraining)
  8. Die Ambiguität der Lust (Ein aufgezwungener – und paradigmatischer – Diskurs/ Der westliche Sex und seine Ambiguitäten/ Die nahöstliche Diskurspluralität/ Sex mit Universalitätsanspruch/ Die Hegemonie des westlichen Diskurses)
  9. Der gelassene Blick auf die Welt (Die Perspektivität der Werte/ Politik mit und ohne Religion/ Die Ambiguität des Fremden)
  10. Auf der Suche nach Gewissheit (Das Zeitalter des islamischen Skeptizismus/ Sonderwege)

Ich möchte bei der Gelegenheit auf einen Vortrag von Prof. Bauer verweisen, in dem er die Falle beschreibt, in die auch ehrenwerte und intelligente Menschen wie Altkanzler Helmut Schmidt tappen können:


Wir Kulturwissenschaftler – und gerade wir, die wir uns mit außereuropäischen Kulturen beschäftigen – sind Experten für das Fremde. Wir sind gestählte Recken im Kampf gegen eurozentrische Wahrnehmungen fremder Kulturen. Wir sind Alteritätsdetektoren, die aufspüren, wie in anderen Kulturen anders gelebt, gedacht und gefühlt wird, und wir werden nicht müde, vor vorschnellen Gleichsetzungen von Phänomenen fremder Kulturen mit scheinbar ähnlichen Phänomenen in der eigenen Kultur zu warnen. So kämpften wir also lange dagegen an, im Fremden immer nur ein Spiegelbild – und sei es ein verzerrtes – des Eigenen zu sehen.
Inzwischen aber, so scheint es, hat sich die Problemlage schier umgekehrt. Heute wird der Blick auf andere Kulturen vorwiegend durch jene verzerrt, die gerade die Andersartigkeit anderer Kulturen betonen. Dieser „Kulturalismus“ mag alte Wurzeln haben, ist aber erst im Laufe der letzen Jahrzehnte zur dominanten Sichtweise auf das Fremde geworden. Kulturalisten glauben, dass es verschiedene, klar voneinander abgrenzbare Kulturen gibt. Diese Kulturen haben jeweils ein bestimmtes Wesen, das sie tief prägt und das sich auch über die Geschichte hinweg kaum ändert. Die Menschen, so würden Kulturalisten behaupten, seien durch die Zugehörigkeit zu ihrer Kultur so tief geprägt, dass sie auch nach einer Migration in eine andere Kultur – oft generationenlang – nicht zu einer Anpassung fähig sind. Dabei gilt stets die Religion mit ihren Normen als wichtigster kulturprägender Faktor.
Es sind keineswegs nur böse oder uneinsichtige Menschen, die sich eine solche kulturalistische Weltsicht angeeignet haben. Auch der ansonsten schätzenswerte Altbundeskanzler Helmut Schmidt etwa hat einen Artikel verfasst, dem er die Überschrift gab: „Sind die Türken Europäer? Nein, sie passen nicht dazu“ ...

Auf diese Verschiebung des Kulturbegriffs, der sich unbemerkt bei manchem immer mehr dem Rassebegriff annähert, bin ich bereits hier im Blog eingegangen, wo ich eine modernere Definition von Kultur darlegte, die einem vor dieser Verschiebung schützen kann:
In den Spiegel der  ausländerfeindlichen Deutschen geschaut
(Ich gebe es zu, mit den Überschriften hapert es bei mir des öfteren...)

Siehe übrigens auch hier ein Tagungsbericht mit Thomas Bauer:
Christentum im Islam – Islam im Christentum? Identitätsbildung durch Rezeption und Abgrenzung in der Geschichte

Abschließend möchte ich noch zwei Einblicke in das Buch geben, indem ich Zusammenfassungen auszugsweise zitiere:

Die vormoderne arabisch-islamische Kultur (8.–19. Jh.) zeichnet sich gegenüber dem Abendland durch eine weit größere Ambiguitätstoleranz aus. Dies zeigt sich in vielen Bereichen der islamischen Wissenschaften (etwa in Koranexegese, im Islamischen Recht und in den Sprachwissenschaften, wo man besonders in der Rhetorik noch heute maßgebliche Resultate erzielte), in zahlreichen Gattungen der Literatur, aber auch in der Mentalität der Menschen und in den sozialen Verhältnissen (Toleranz gegenüber religiösen Minderheiten; Wahrnehmung von Fremdheit; hohe soziale Mobilität). Bezeichnend ist auch die weitgehend konfliktfreie Koexistenz religiöser und säkularer Diskurse in der klassischen islamischen Kultur, die in auffälligem Kontrast zur heute postulierten Untrennbarkeit zwischen Islam und weltlicher Sphäre steht. Unter diesen spezifischen Voraussetzungen blieben dem Islam viele der Krisen des Abendlandes erspart, doch liegt hierin auch eine wichtige Ursache für die aktuellen Konflikte zwischen Islam und westlicher Moderne. ...
Weiter auf der Seite der Uni Münster.


Alle Kulturen müssen mit Ambiguität leben. Sie unterscheiden sich jedoch dadurch, wie sie damit umgehen. Zweideutigkeit wird hingenommen, ja mitunter wird sie bewußt erzeugt und nimmt wichtige kulturelle Funktionen ein, etwa in Konventionen der Höflichkeit und der Diplomatie, durch Riten oder Kunstwerke. Sie kann aber auch vermieden und bekämpft werden. Kulturen unterscheiden sich also durch ihre unterschiedliche Ambiguitätstoleranz. In islamischen Kulturen ist in dieser Hinsicht während der letzten Jahrhunderte ein Wandel zu beobachten, der sich so deutlich und mit solch drastischen Konsequenzen kaum anderswo zeigt: von einer relativ großen Toleranz hin zu einer bisweilen extremen Intoleranz gegenüber allen Phänomenen von Vieldeutigkeit und Pluralität. Während zum Beispiel im 14. Jahrhundert die Varianten des Korantexts und die Vielzahl an Auslegungsmöglichkeiten als Bereicherung galten, ist dies heute vielen Muslimen ein Ärgernis. ...
Weiter auf der Seite des Verlages.



(Bildquelle: Wikimedia Commons)

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