Teil eines Verses aus der 48. Sure Al-Fath in einer Handschrift aus dem 8. oder 9. Jahrhundert. Naher Osten oder Nordafrika. Abbasidisch. |
Manche Muslime haben ja die Vorstellung, dass der Koran, den sie heute in den Händen halten genau derselbe Koran wäre, der oben im Himmel verwahrt wird; oder zumindest ganz genau derselbe wäre, wie sie die Stimmen dem Propheten Muhammad diktierten. Dabei übersehen manche einerseits, dass es beim Tode Muhammads den fertigen schriftlichen Koran noch gar nicht gegeben hatte. Andererseits bedenken sie nicht, dass trotz aller Vorsichtsmaßnahmen, in letzter logischer Konsequenz doch der Mensch der Schöpfer jedes einzelnen Buchstabens im Koran im Sinne eines Überträgers ist. Sicher: Muhammad hatte den Koran immer nur stückchenweise empfangen, damit er ihn sich besser merken konnte. Aber hier fängt schon das Problem an, denn Muhammad ist ja in islamischer Vorstellung letztlich nur ein Mensch, ein Gesandter zwar, ein auserwählter, aber letztlich nur ein Mensch, kein Gottessohn oder dergleichen. Und es lag manchmal zwischen Empfang einer göttlichen Botschaft und dem Berichten davon an andere Menschen in seiner Umgebung eine gewisse Zeit - besonders bei den ersten Offenbarungen, wo er noch nicht genau wusste, ob er nun eine Illusion hatte oder Gott zuhörte, und sich erst später seiner Ehefrau Chadidscha offenbarte. Dazwischen mögen eventuell schon einige Worte, Silben der empfangenen Offenbarung verloren gegangen sein? Wie dem auch sei, später wurden die Offenbarungen ja durch Muhammad möglichst schnell an seine Gefährten weiter gegeben, damit diese sich gleich ans Auswendiglernen machen konnten, damit möglichst nichts von Gottes Worten verloren geht. Aber wie das eben bei Menschen so ist: Hundertprozentiges gibt es bei uns eher nicht, obwohl die frühislamischen Menschen sicherlich im Memorieren trainierter als wir heutzutage waren. Daher hatten die frühen Muslime noch eine zusätzliche Absicherung ersonnen, nämlich als Gedächtnisstütze einige Verse auch auf Stein, Horn, Palmblätter, Knochen, Leder, Holz, etc. schriftlich festzuhalten. Dabei diente die arabische Schrift so, wie wir heute Steno benutzen - eben als Gedächtnisstütze, nicht zur "wissenschaftlichen" Fixierung eines sakralen Textes. Es gab also keinen schriftlichen Koran, auch keine abschließende "Zettelsammlung", oder "Knochensammlung", des gesamten Korans bei Muhammads Tod. Und das ist ein Problem, denn letztlich konnte man Muhammad bei strittigen Themen, wo vielleicht mehrere Menschen sich an etwas leicht Unterschiedliches erinnerten, nicht mehr befragen, an was sich denn Muhammad so erinnert. Dieses oder jenes Wort, welches war es denn noch einmal?
Tja. Irgendwie schon komisch. Einerseits wird Gott allmächtig gesehen, andererseits lässt er es zu, dass seine Botschaft noch gar nicht unmissverständlich so schriftlich fixiert wurde, dass es darüber keine Meinungsverschiedenheiten oder zumindest Variationen mehr entstehen können. Immerhin ist ja im Selbstverständnis der Muslime der Grund für einen weiteren Propheten der, dass eben Gott unzufrieden sein soll, dass die Menschheit die Worte der vorigen Propheten so verfälschten oder falsch deuteten, dass Gott sich dachte, so, jetzt mal Butter bei die Fische, ich diktiere euch Menschen lieber mal meinen Fahrplan ins Paradies, damit nix schiefgeht...
Aber wie viele Muslime so schön sagen: Allahu A'lam. الله أعلم. Zu deutsch: Gott weiß es besser...
Jedenfalls bleibt festzuhalten:
Der wichtigste Übertragungsweg (bis heute eigentlich) blieb immer die Rezitation, das Memorieren des Korans, also quasi "Stille Post".
Und da die frühen Muslime gleich sehr große Verbreitung fanden, entwickelten sich aus diesem Umstand verschiedene Lesarten des Korans.
So kam es, dass in diversen Regionen des riesigen Weltreiches der Kalifen unterschiedliche Koranausgaben geschrieben wurden.
Einige davon wurden als authentisch angesehen, andere verworfen. Näheres siehe unten.
Heutzutage kann man alle Versionen des Korans erwerben oder auftreiben, aber da die Version von Saudi-Arabien - durch Petrodollars begünstigt - oft verschenkt wurde, fand diese Version weltweite Verbreitung.
Siehe dazu den kurzen aber aufschlußreichen Artikel der Wikipedia:
Lesarten des Korans
Bevor hier aber nun einige (ggf. nichtmuslimische) Leser anfangen zu denken, der Koran wäre nach obigen Worten nur ein beliebig ausgedachtes zusammengestückeltes Machwerk von Muslimen weit nach Muhammads Tod, oder alle diverse Korane würden sich immens voneinander unterscheiden, so sei ihnen gesagt, dass trotz oraler Tradition, also "Stiller Post", die westliche Islamwissenschaft, wie auch (natürlich) islamische Gelehrte davon ausgehen, dass der Koran, wie er heute erstmals 1923 von der Al-Azhar Universität in Kairo verbindlich gedruckt wurde (in der östlichen Lesart), durchaus historisch und authentisch das Wort Muhammads (und für Muslime damit das Wort Gottes) wiedergibt - zumindest gibt es bis heute noch keine eindeutigen Beweise für das Gegenteil. Oben erwähnte Variationen sind inhaltliche Nuancen, wenn überhaupt. Keine grundlegenden Widersprüche und weit von den Schwierigkeiten entfernt, die beispielsweise die Bibeltexte dem Historiker oder Theologen mit ihrer hermeneutischen wissenschaftlichen Herangehensweise machen.
Die einzigen, die damit ein "Problem" haben oder hatten, sind bestimmte fundamentalistische (islamistische) Strömungen im Islam, die den Koran nicht sinngemäß, nicht wortwörtlich, nein, am liebsten sogar buchstabengetreu auslegen möchten, und die sich nur schwer an den Gedanken gewöhnen konnten oder können, dass selbst der Koran eine gewisse Variabilität besitzt, wie so vieles im Islam. Da Gott nun einmal diesen Weg der Übertragung seiner Worte ausgewählt hatte, ist es doch nur logisch, dass er damit der wortwörtlichen oder gar buchstabentreuen Auslegung oder Interpretation seiner Worte gleich einen Riegel vorschieben wollte, damit sich die Menschen eher mit dem Sinn seiner Worte im Koran befassen und sich nicht ständig den Kopf darüber zermartern, was nun dieses oder jenes Wort bedeutet, oder dieser oder jener Buchstabe. Auch sehen einige Gelehrte es als "List" Gottes, dass er so viele diverse scheinbare oder tatsächliche Widersprüche in den Koran einbaute, so viele schwer oder gar nicht verständliche Sätze. So ist der Mensch immer wieder gezwungen sich mit dem Koran zu beschäftigen und seinen Verstand zu gebrauchen um die jeweiligen Schlüsse und Interpretationen neu zu überdenken. Dieser eventuelle "Plan" Gottes ist voll aufgegangen, denn die Korankommentar-Literatur füllt seit den Anfängen des Islams ganze Bibliotheken und geben einen guten Beweis dafür, wie vielfältig die Meinungen darüber sind, was Gott wohl mit diesem oder jenen Suren gemeint haben dürfte. Wie groß der Bedarf an Erläuterungen war, wie groß das Bedürfnis war, den Koran zu erklären, da er so vieldeutig ist oder den Korankommentatoren erschien. Denn wäre jede Sure sonnenklar, hätte es niemals diese immense Zahl an Korankommentaren gegeben, denn es hätte schlicht niemand zusätzliche Erklärungen gebraucht.
Jedenfalls ist es nicht so simpel, wie es heutige Islamisten sehen, die meinen sie bräuchten nur den Koran und die Hadithe (= überlieferte Sprüche und Taten von Muhammads), und mehr nicht. Auch sie interpretieren letztlich, selbst wenn sie wortwörtlich den Koran auslegen wollen.
Die Entstehungsgeschichte des heutigen Korans ist also nicht so einfach, wie es scheint, Gott gibt Muhammad die Suren, er schreibt sie in ein Buch und fertig ist der heutige Koran. So nicht.
Ich zitiere mal aus einer sehr guten Einführung in den Koran, dann wird die Entstehungsgeschichte dieses wirkmächtigen Buches deutlicher, als meine obigen Ausführungen:
Sammlung, Redaktion und Textgeschichte des Korans
Wer sich mit dem Koran in seiner heutigen Form eingehender beschäftigt, wird kaum den Eindruck gewinnen, daß es sich um ein Buch „aus einem Guß“ handelt. Schon die Anordnung der Suren ist ungewöhnlich; die langen (mit Ausnahme von Sure 1) stehen zu Beginn, die kurzen am Ende. Wer sich dann den einzelnen Suren zuwendet, wird rasch bemerken, daß besonders die längeren von ihnen keine in sich geschlossene Einheit bilden, sondern aus einzelnen Abschnitten bestehen. Das gilt z.B. für die längste aller Suren, die medinensische Sure 2. Sie beginnt mit einem Abschnitt, den man als programmatische Einleitung für den gesamten Koran auffassen
kann:
[1] Alif Lām Mīm.
[2] Dies ist das Buch, an dem kein Zweifel ist;
Rechtleitung ist es denen, die Gott fürchten,
[3] Die glauben ans Verborgene,
Verrichten das Gebet,
Und die von dem, was Wir
Zur Nahrung ihnen gaben, spenden;
[4] Die daran glauben, was zu dir herabkam,
Und daran auch, was vor dir schon herabkam,
Und die Gewißheit haben übers Jenseits:
[5] Die sind von ihrem Herren rechtgeleitet,
Und ihnen ergeht es wohl.
Hier wird das heilige „Buch“ (al-kitāb) gleichsam als schon bestehend vorausgesetzt, und eine wesentliche Eigenschaft, daß nämlich kein Zweifel an ihm bestehe, ebenso hervorgehoben wie sein Zweck als „Rechtleitung“ für eine bestimmte Gruppe von Menschen, die in den folgenden Sätzen in dem, was sie glauben und tun, genauer beschrieben werden. Ebenso wohlkomponiert erscheint der Schlußabschnitt der Sure (Vers 285 f.), der bereits auf S. 93 f. vorgestellt wurde. Für die gut 280 Verse, die dazwischen stehen, ist es jedoch sehr schwierig, die Prinzipien zu erkennen, nach denen sie angeordnet sind.
Die behandelten Themen sind ganz unterschiedlicher Art, und erzählende Abschnitte wechseln mit solchen ermahnenden oder gesetzlichen Charakters.
Auf der anderen Seite steht ein großer Teil der mekkanischen Suren, bei denen man aufgrund der Ergebnisse neuerer literaturwissenschaftlicher Forschungen kaum ernstlich bestreiten kann, daß ihnen bestimmte kompositorische Prinzipien zugrunde liegen. Allerdings ist die Komposition nicht selten beeinträchtigt durch spätere medinensische Zusätze, die die islamische exegetische Tradition teilweise übrigens ausdrücklich anerkennt (z.B. Sure 73, 20). Freilich sagt diese Tradition nichts darüber, wie man sich die Entstehung solcher Zusätze vorzustellen hat.
Frühe Koranbewahrung
Die Frage, wie der Koran seine gegenwärtige Form erhalten hat, ist nicht ganz einfach zu beantworten. Was dabei zunächst die Entwicklung der Gattung „Sure“ betrifft, so ist zu bedenken, daß die islamische Tradition die Herabkunft der einzelnen Offenbarungen nicht durchweg mit ganzen Suren in Verbindung bringt, sondern viel öfter nur mit Surenteilen oder einzelnen Versen. Andererseits dürfte klar geworden sein, daß der liturgische Vortrag (qur’ān) der Offenbarungen die Ausarbeitung bestimmter Formen sehr wahrscheinlich macht. Das ist auch als mündlicher Vorgang durchaus vorstellbar, setzt also nicht unbedingt von Anfang an eine schriftliche Fixierung der Offenbarungen voraus.
Diese Annahme wird durch Berichte der islamischen Tradition in der Weise bestätigt, daß es schon zu Lebzeiten des Propheten eine Reihe von Personen gab, die „den Koran sammelten“, wie es auf arabisch ausgedrückt wird (dschama' ul-qur’āna), worunter zu verstehen ist, daß sie die vorgetragenen Offenbarungstexte auswendig lernten und im Gedächtnis bewahrten. Von den Namen solcher Korankenner seien hier Abdallāh Ibn Mas'ūd, Ubaiy Ibn Ka'b und Zaid Ibn Tābit genannt.
Zaid Ibn Tābit wird in vielen Quellen gleichzeitig auch als „Sekretär“ Mohammeds bezeichnet, der zahlreiche Offenbarungen schon zu Lebzeiten des Propheten auf dessen Anweisung hin aufgeschrieben habe. Anders als noch zu Beginn der kritischen Koranforschung im 19. Jahrhundert hat man heute genauere Kenntnisse über das Überlieferungswesen in Arabien in vor- und frühislamischer Zeit. Danach schließen mündliche und schriftliche Überlieferung einander keineswegs aus. Allerdings besitzt die mündliche Überlieferung eindeutig den Vorrang, d.h. schriftliche Aufzeichnungen dienen lediglich als Gedächtnisstütze für den prinzipiell auswendig gekonnten Text.
Ein „Buch“ lesen heißt also in erster Linie, es zu „hören“. Ob der Koran anfangs nur mündlich oder auch schon schriftlich tradiert wurde, sollte man übrigens nicht mit dem vieldiskutierten Problem in Zusammenhang bringen, ob Mohammed lesen und schreiben konnte. Auch wenn es historisch wahrscheinlicher ist, daß er es konnte, hängt die Überlieferungsweise des Korans in den frühen Stadien eher von den Rahmenbedingungen ab, die damals generell für die Tradierung dieser Art von Literatur gültig waren.
Was nun die „Sammlung des Korans“ betrifft, also die Zusammenstellung der einzelnen „Korane“ bzw. Suren zu einem Buch, so ist sich die islamische Tradition in einem Punkt vollkommen einig: Als Mohammed starb, existierte der Koran in seiner heutigen Form noch nicht.
Vielmehr gab es Personen, die Teile des Korans auswendig kannten, und ebenso gab es schriftliche Aufzeichnungen; in diesem Zusammenhang wird eine Reihe unterschiedlicher Materialien genannt, auf denen man Teile des Korans aufzeichnete, von Papyrus- oder Pergamentzetteln über Palmstengel und Tonscherben bis hin zu Lederfetzen und Knochen. Diese Aufzählung von Schreibmaterialien, auf denen immer nur relativ kurze Texte Platz finden konnten, kommt zwar der traditionellen islamischen Auffassung der „kleinteiligen“ Entstehung der koranischen Texte entgegen, ist aber gerade deshalb nicht ohne weiteres vereinbar mit den Erkenntnissen, die sich aus einer literaturwissenschaftlichen Analyse gerade der frühen Suren gewinnen lassen.
Sicherlich hatte Mohammed von Anfang an die Absicht, ein eigenes „Buch“ zusammenzustellen, und zwar ganz nach dem Vorbild der „Buchbesitzer“ (ahl al-kitāb), d.h. der Juden und der Christen, die über die Thora und das Evangelium verfügten. Sonst wäre es nicht verständlich, daß es an mehreren Stellen im Koran heißt: „Und erwähne im Buch ...“ (vgl. 19, 16. 41. 51. 54). Dann folgen stets Namen von Gestalten der biblischen Heilsgeschichte, wie Maria, Abraham, Mose oder Ismael; einmal wird in einem ähnlichen Zusammenhang jedoch auch auf einen der arabischen Gesandten, nämlich Hūd, angespielt (46, 21). Daß also einige Suren des Korans ihre heutige Form im wesentlichen dem Propheten Mohammed verdanken, erscheint durchaus wahrscheinlich. Anders war es jedoch mit der Reihenfolge der Suren; als gottesdienstliche „Vortragstexte“ waren sie ursprünglich sicherlich in sich abgeschlossene Kompositionen, für deren Aufeinanderfolge in einem „Buch“ es zunächst keine inhaltlich naheliegenden Gesichtspunkte zu geben schien. Daher ist es auch nicht verwunderlich, daß es ganz unterschiedliche Angaben über die Reihenfolge der Suren in den frühesten Koranausgaben gibt.
Übrigens liefert die von der gottesdienstlichen Aufführungspraxis her zu verstehende Geschlossenheit der einzelnen Kompositionen auch einen plausiblen Grund dafür, warum es im heutigen Korantext so viele Wiederholungen gibt.
Das „Buch“ war also, als Mohammed 632 ganz unerwartet starb, noch nicht fertig. Damit stand die junge Gemeinde vor einem Dilemma. Denn in wessen Hand lag nun die durch Gott legitimierte Autorität, die der Prophet besaß und die ihren Ausdruck in der Verkündigung des Korans fand? Die islamische Tradition weiß zu berichten, daß die Sammlung des Korans ganz wesentlich durch ein kriegerisches Ereignis gefördert wurde, und zwar die Bekämpfung des rivalisierenden Propheten Musailima in der ostarabischen Landschaft Jamama (ca. 632/33). Da in der entscheidenden Schlacht viele „Koranleser“ (qāri’, Pl. qurrā’) fielen, fürchtete man um den Fortbestand des Korans. Aus diesem Ereignis, über dessen Historizität man streiten kann, läßt sich die Bedeutung, die die mündliche Koranüberlieferung hatte, klar erkennen. Da es aber, wie wir oben sahen, ganz wahrscheinlich ist, daß es zu Mohammeds Lebzeiten auch schon schriftliche Koranaufzeichnungen gab, kann das nicht der einzige Grund für die Bemühungen um eine endgültige Koransammlung und -redaktion gewesen sein. Sicherlich hat auch das Aufkommen divergierender Lesetraditionen, die ein einheitliches Textverständnis erschwerten, das Bedürfnis nach der Schaffung eines verbindlichen Korantextes laut werden lassen.
Die Redaktion des Korans unter 'Utmān
Schon unter den beiden ersten Nachfolgern Mohammeds, den Kalifen Abu Bakr (reg. 632–634) und 'Umar (reg. 634–644), gab es Bemühungen, eine Koranausgabe zu schaffen. Endgültig gelang das aber erst unter dem dritten Kalifen 'Utmān Ibn 'Affān (reg. 644–656). Mit Hilfe von Mohammeds Sekretär Zaid Ibn Tābit und anderen wurde nun auf der Grundlage der von Zaid früher schon hergestellten Niederschrift eine Ausgabe geschaffen, deren Abschrift in die fünf Städte Mekka, Medina, Damaskus, Basra und Kufa geschickt wurde. Andere Handschriften sollten, so der Befehl 'Utmāns, vernichtet werden. Dies geschah allerdings erst während eines längeren Prozesses, in dessen Verlauf sich der sog. „'utmānische Text“ durchsetzte und alle anderen Textformen verdrängte.
Die Kenntnis zahlreicher abweichender, sog. „unkanonischer“ Lesarten wurde dennoch auf verschiedenen Wegen weitergegeben, und zwar sicherlich deshalb, weil sie für die Interpretation auch des utmānischen Textes von Interesse waren. Differenzen sind ganz überwiegend dort zu beobachten, wo der Text mehrere Deutungen zuläßt oder schwierigere
grammatische oder auch inhaltliche Probleme bietet. Vergleicht man den utmānischen Text mit überlieferten Varianten aus der wohl bedeutendsten vor-'utmānischen Koransammlung des Abdallāh Ibn Mas'ūd, die als ganze verloren ist, so erkennt man rasch, daß Ibn Mas'ūd eher zu einer „leichteren“ und „längeren“, häufig paraphrasierenden Textform neigt. Das spricht dafür, daß dem utmānischen Text, gerade weil in ihm die Schwierigkeiten nicht geglättet sind, ein hohes Maß an Authentizität zukommt. Jedenfalls dürfte es schwer, wenn nicht gar unmöglich sein, einen vor-utmānischen Ur-Koran rekonstruieren zu wollen.
Um die Bedeutung des utmānischen Textes richtig beurteilen und die weitere Textgeschichte des Korans verstehen zu können, ist es wichtig, etwas über die arabische Schreibpraxis der damaligen Zeit zu sagen. In der frühen arabischen Schrift, die sich aus einer aramäischen Schrift, dem Nabatäischen, entwickelt hat, sind nur die Konsonanten und Diphthonge (ai, au) wiedergegeben, während die langen Vokale (ā, ī, ū) nicht immer und die kurzen Vokale (a, i, u) überhaupt nicht notiert wurden. Hinzu kommt, daß die frühesten arabischen Schriftstile bei weitem nicht für jeden der insgesamt 28 Konsonanten ein eigenes Schriftzeichen hatten: Es gab deren lediglich 18. So hatte man z. B. nur ein Schriftzeichen für r und z oder für s und š. In bestimmten Fällen (die Buchstabenformen variieren je nach der Position im Schriftzug) stand für fünf verschiedene Konsonanten (nämlich für b, t, th, n, y im Wortinneren) nur ein einziges Schriftzeichen zur Verfügung. Erst in späterer Zeit behob man diese Mehrdeutigkeiten, indem man die Schriftzeichen mit zusätzlichen Punkten (manchmal auch Strichen), sog. diakritischen Zeichen, versah, um sie voneinander zu unterscheiden. Auch die Vokale bezeichnete man durch bestimmte über, neben oder unter die Konsonanten gesetzte Zeichen.
Die ältesten bekannten Koranhandschriften sind daher alles andere als leicht zu lesen; sie lassen oftmals ganz verschiedene Lesungen zu. Auch den utmānischen Text hat man sich in dieser Weise vorzustellen: Ihm lag gewiß eine genau definierte „Lesart“ (qirā’a) zugrunde; sie war wegen der beschriebenen Eigentümlichkeiten der arabischen Schrift aber nicht mit der gleichen Genauigkeit auch schriftlich fixierbar. Im utmānischen Text ist daher nur das konsonantische Gerüst ohne diakritische Zeichen, der sog. rasnt, festgelegt. Wenn man ihn exakt deuten wollte, setzte das unbedingt die Kenntnis der „Lesung“ voraus. Kannte man sie nicht, ließ wiederum die schriftliche Form an nicht wenigen Stellen unterschiedliche Deutungen zu.
Eben das passierte nun im Lauf der Zeit mit dem utmānischen Text. In den Städten, in die Abschriften mit dem utmānischen Konsonantentext (rasm) gesandt wurden, entwikkelten sich nämlich auf dessen Basis bestimmte Lesetraditionen oder Lesarten (qirā’a, Pl. qirā’āt). Die heutige islamische Tradition hat sieben solcher Lesetraditionen als „kanonisch“, d. h. als gültig, anerkannt. Darin kommt eine charakteristische Eigenschaft des Islams insgesamt zum Tragen, nämlich seine ganz erstaunliche Fähigkeit, dem Prinzip der Pluralität Rechnung zu tragen, dies aber zugleich in der Weise einzugrenzen, daß daraus keine Tendenzen zur Spaltung entstehen. Es bleibt also das überaus bemerkenswerte Faktum zu betonen, daß der Text von Gottes geoffenbartem Wort keineswegs eindeutig fixiert ist, sondern in einem genau festgelegten Rahmen Varianten der Lesung und damit auch der Interpretation zuläßt.
Die einzelnen Lesetraditionen werden übrigens benannt nach dem ersten „Leser“ der in den fünf oben genannten Städten sich entwickelnden Traditionen; und dann nach den Überlieferern, die sich auf ihn berufen. Bis heute ist für die genaue Textgestalt des Korans die ununterbrochene mündliche Tradierung des Korans durch die Schulen der Koranleser maßgebend – und keineswegs irgendeine schriftliche Urform des Korans. Jede „gültige“ Koranausgabe bedarf daher des Hinweises auf die Freigabe durch ein berufenes Koranlesergremium, wie z. B. das der Azhar-Universität in Kairo.
In der langen Geschichte der Tradierung des Korans gewannen zwei „Lesarten“ besondere Bedeutung. Die eine beruht auf der von Medina ausgehenden Lesetradition, die mit den Namen des Ersttradenten Näfi' und seines Überlieferers Warš (arab. „Warš an Nāfi“, d.h. „Nāfi in der Überlieferung des Wars“) bezeichnet wird. Diese Tradition hat sich vor allem im Westen der islamischen Welt (Marokko, Algerien, Tunesien; früher auch in Spanien) durchgesetzt und herrscht dort bis zum heutigen Tag vor. Die andere Lesetradition ist in der irakischen Stadt Kufa beheimatet; sie wird nach dem Ersttradenten Āsim und seinem Überlieferer Hafs kurz als „Ḥafs an Āsim“ („Āsim in der Überlieferung des Ḥafs“) bezeichnet. Sie war im Osten der islamischen Welt verbreitet und liegt der Koranausgabe zugrunde, die auf Veranlassung von König Fuad von einem Gremium von Azhar-Gelehrten erarbeitet und 1923 in Kairo erstmals gedruckt wurde.
An der ununterbrochenen mündlichen Überlieferung des Korans hat sich stets auch die schriftliche Überlieferung orientiert. Aber die schriftliche Aufzeichnung ist nahezu bedeutungslos für die Textgeschichte, abgesehen vielleicht von den allerältesten Handschriften. Die meisten Handschriften entstanden als Hilfsmittel bei der Koranmemorierung. Daneben aber liegt ihre Bedeutung auf künstlerischem Gebiet. Hier konnte sich die für die islamische Kultur so charakteristische Kunst der Kalligraphie entwickeln. Jede Epoche der islamischen Geschichte hat dabei ihren eigenen kalligraphischen Stil gefunden. Natürlich galt die Herstellung von Koranhandschriften auch als frommes Werk.
Da der Buchdruck in der islamischen Welt in großem Umfang erst ab dem 19. Jahrhundert aufkam, ist der Koran in arabischer Sprache bemerkenswerterweise zuerst in Europa gedruckt worden. ...
aus: Hartmut Bobzin: Der Koran. Eine Einführung. München, Beck, 1999.
Tipp: Im obigen Link kann man bei Googlebooks noch weitere Seiten frei einsehen.
Was ich fast vergessen habe:
Wie man anhand der obigen Ausführungen sehen kann: Es kann noch viel erforscht werden. Heute haben wir ganz andere Möglichkeiten, als noch vor 1000 Jahren die Gelehrten hatten, die auch auf der Suche nach einer möglichst wasserdichten Argumentations- oder besser noch Beweiskette waren, denn schließlich befanden sie sich im Wettbewerb zu anderen Religionen.
Daher ist es spannend zu sehen, welche Ergebnisse ein großes Forschungsprojekt in Deutschland zutage fördert, das der Erforschung des Korans zum Ziel hat. Übrigens wird in Berlin sowohl von Nichtmuslimen als auch von Muslimen gemeinsam am Koran geforscht!
Corpus Coranicum (Beschreibung bei Wikipedia)
Projektvorstellung (bei der Akademie der Wissenschaften)
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(Bildquelle: Wikimedia Commons)
ein wunderbarer Artikel, danke dafür
AntwortenLöschenIn einem älteren Beitrag hab ich mal Links zu den Kontroversen um den Koran gesammelt.
AntwortenLöschen@Lynxx
AntwortenLöschenwas mich interessieren würde. In der Literatur, die ich kenne habe ich daruf eigentlich nirgens eine Antwort gefunden. DEr KOran ist im Arabischen ndes 7. Jahrhundert n. C. gescriebene:
Inwieweit ist dieses Arabisch des Korans für einen heutigen Ägypter oder Syrer ohne Erklärung verstehbar? Die Sprache wird sich ja auch in dortigen Breiten verändert haben.
Das heutige klassische Hocharabisch unterscheidet sich nicht so sehr vom Arabisch des Korans. Es wird allerdings heutzutage kaum gesprochen, nur im TV, im Radio und bei offiziellen Anlässen wird es auch mündlich benutzt. Außerdem werden damit schriftliche Erzeugnisse geschrieben, wobei es hier je nach arabischem Land Unterschiede gibt. Aus diesem Hocharabisch haben sich in unterschiedlichem Maße diverse Dialekte gebildet, die vorzugsweise Verwendung finden. Trotzdem verstehen die meisten Menschen weiterhin dieses klassische Hocharabisch, und können es vor allem lesen. Mehr Infos findest du im Artikel Arabisch in der Wikipedia.
AntwortenLöschenErst mal: Großes Lob.
AntwortenLöschenDann zwei Sachen, die man eigentlich nicht macht.
Erstens nach Jahren mäkeln, und mäkeln überhaupt.
Du schreibst: "Muhammad hatte den Koran immer nur stückchenweise empfangen, damit er
ihn sich besser merken konnte." -- Die erste Aussage ist unumstritten. Aber woher kennst Du den Grund? Da Muhammad Deinen Blog nicht liest und widersprechen kann, solltest Du vorsichtiger sein.
Ferner: "der Koran, wie er heute erstmals 1923 von der Al-Azhar Universität in Kairo verbindlich gedruckt wurde (in der östlichen Lesart),"
erstens war der Druck 1924 in Gizeh,
zweitens hat die Azhar mit der Entstehung nichts zu tun,
drittens was soll "östliche Lesart"? -- vermutlich meist Du die Überlieferung des Ḥafṣ der Lesart des ʿĀṣim aus Kūfā, die außer in Teilen (Nord-)Afrika überall gilt,
viertens ist nichts mit "erstmals" und "verbindlich". Seit 1850 wurde er sehr viel, an vielen verschieden Orten gedruckt. Und die Reform von 1924 war kein großer Einschnitt. Die Ausgabe, die Riḍwān al-Muḫallalātī 1890 in Kairo besorgte (Verleger Muḥ Abu Zaid) war der "erstmaligen" von 1924 sehr ähnlich. Das kann man in meinem (noch sehr unfertigen blog) keinstandard.blogspot.com nachlesen.
Nicht mal in Ägypten war er verbindlich, aber doch maßgebend. Im Rest der ost-arabischen Staaten hat sich erst nach 1985 die Ausgabe von ʿUṯmān Ṭāhā durchgesetzt, der die osmanische Aufteilung auf 604 Seiten mit dem Duktus und der Rechtschreibung des 1924er verband, durchgesetzt -- dank des saudischen Geldes -- übrigens mit ein paar Mini-Änderungen.