Donnerstag, 21. Juli 2011

Türkeistämmige fühlen sich oft unerwünscht, sind aber besser integriert als vielfach gedacht

Lesesaal einer Uni, natürlicher Ort der Freundschaften
von Gästen, Migranten und Einheimischen


Es ist eigentlich jedes Jahr dasselbe. Während Vorurteile anlässlich der jüngsten Provokation durch Thilo Sarrazin durch die Medien wabern, bleiben jüngste empirische Studien, wie es wirklich da draußen aussieht weitgehend unbeachtet durch die Bevölkerung. Jetzt ist gerade wieder eine erschienen, auf die ich weiter unten eingehe, vorher jedoch mein Déjà-vu erläutern möchte.

Ich hatte schon 2009 darüber diskutiert, wieso es solch eine Diskrepanz gibt, zwischen Medienöffentlichkeit einerseits und der Realität wie sie wissenschaftliche Studien beschreiben andererseits, weit vor dem Hype um die Thesen von Sarrazin letztes Jahr.

Das Ende des gemeinen Feld-, Wald- und Wiesen-Muslims

Überraschende Studie im Auftrag des Innenministeriums: Es gibt in Deutschland mehr Muslime als vermutet, sie sind sozial besser integriert als vermutet - und über die Hälfte ist Mitglied eines deutschen Vereins. Von Islamverbänden fühlen sie sich nur zu einem geringen Grad vertreten. ..."

"Über die Hälfte der in Deutschland lebenden Muslime ist zum Beispiel Mitglied in einem "deutschen Verein",..."

"nur ein Prozent von ihnen "keine Alltagskontakte zu Deutschen" und hegt auch keinen entsprechenden Wunsch - während die Mehrheit der Muslime wiederum durchaus gerne mehr Austausch mit "Deutschen" hätte."

"viele Probleme des Zusammenlebens zwischen Muslimen und Mehrheitsgesellschaft sind Randphänomene. "

"Auf dem Gebiet der Bildung stehen die Dinge nicht gut - auch das ist bekannt. Verdienstvoll aber ist, dass in der Studie klargestellt wird: Ein Zusammenhang zur Religion lässt sich nicht herstellen."

"So zum Beispiel die Nichtteilnahme von muslimischen Schülerinnen an Schwimmunterricht und Klassenfahrten. Der Studie zufolge bleiben lediglich sieben beziehungsweise zehn Prozent den Angeboten fern."

"...Kopftuch. Aber: Nur jede zweite Muslimin, die sich selbst als "stark gläubig" bezeichnet, trägt eines."

"...70 Prozent der Musliminnen tragen nie ein Kopftuch."

"Islamverbände ... repräsentieren der Studie zufolge weniger als 25 Prozent der Muslime"

"Rund 20 Prozent der Muslime sind in religiösen Vereinen oder Gemeinden organisiert, wobei dieser Wert wiederum geringer ist als bei Nicht-Muslimen."


Und so weiter... so berichtete der Spiegel 2009.

Es mag für den Spiegel Autoren eine "Überraschung" gewesen sein, für Integrationsforscher ist dieses nichts absolut neues gewesen.
Diese obige Meldung allein war schon damals eine klare "Ohrfeige" an alle PI-Jünger und Konsorten, die lustvoll und mit Hingabe in ihrer Paranoia von "Eurabia" schwelgen, von einer "Islamisierung" Deutschlands faseln, um die komplizierter gewordene Welt mit ihren schmalen Hirnen besser fassen zu können.

Das, was wir alle meistens mit Türkischstämmigen sicherlich tagtäglich erleben, sofern wir überhaupt persönlichen Kontakt zu ihnen jenseits von "Guten Tag"-Wünschen haben, konnten wir schon damals mit diesen Fakten auch belegen (es sei denn, man ist selber Deutschtürke, dann hat man natürlich eine weitere Dimension der Realität hinzugewonnen, nämlich die Binnenansicht). Nämlich die Erkenntnis, dass nichts so heiß gegessen wird, wie es gekocht wird - konkret, nicht jede Medienmeldung, die gestreut wird, damit die Auflage steigt, zeigt auch das komplette Bild der Realität an.

Es zeigt uns, dass die Zugewanderten schon wesentlich integrierter sind, als uns zum Beispiel die Springer-Presse durch selektive Berichterstattung nicht selten tagtäglich suggeriert, aber auch, dass die Mehrheitsgesellschaft mehrheitlich ihren Anteil daran hat, dass die Zugewanderten sich insgesamt trotz allem recht wohl fühlen, wenn auch inzwischen andere Tendenzen sichtbar wurden (siehe unten).

Was ich aber nicht teile ist die Schulterklopferei von Schäuble und Co., dass sie nämlich die Ergebnisse dieser Studie nun auf ihre Politik zurückführen wollen. Die Islamkonferenz ist zwar schön und gut, und setzte auch neue und wichtige Impulse, aber, der Integrationsgrad der Muslime war schon vorher so wie in der Studie belegt, und nicht das Ergebnis dieser Islamkonferenz, die ja erst einige Jahre tagte und noch kaum messbaren Ergebnisse zeigen kann, da erst jüngst praktische Handlungen daraus erfolgten (Religionsunterricht, bei gleichzeitiger Kürzung der Jugend- und Sozialarbeit - wer hier einen Widerspruch entdeckt, liegt nicht falsch...).

Da diese Studien kaum in der Mehrheitsgesellschaft bekannt sein dürften, sollte man in Diskussionen immer wieder auf sie eingehen, denn die meisten Menschen in Deutschland haben nur ein Zerrbild der Migranten durch die Medien im Kopf, ein Vorurteil.

Wenn z. B. ostdeutsche Diskutanten klagen, es gebe zuviele Muslime im Land, kann man ihnen nun sagen, dass nur 2% der ca. 4 Millionen im Osten leben, und ihre Aussage damit obsolet ist.

Wenn z.B. Diskutanten klagen, dass ja die meisten muslimischen Schülerinnen nicht zum Schwimmunterricht oder Klassenfahrt mitkommen, dann kann man ihnen nun sagen, dass es 9 von 10 trotzdem tun.

Wenn z.B. gesagt wird, das die meisten Musliminnen Kopftuch tragen, erst recht die strenggläubigen, kannst man ihnen mit konkreten Fakten widersprechen und sagen, dass 70% nie ein Kopftuch tragen, und selbst die Strenggläubigen nur zu 50% eines tragen.


Damals haben noch andere Zeitungen davon berichtet, nur das Bild des "Ausländers" hat sich dadurch nicht groß verändert, wie die Diskussionen ein Jahr später bei der Sarrazin-Debatte zeigte:
Gutachten zu Integration in Deutschland - Viel Vertrauen, wenig Bildung, aus der Süddeutsche Zeitung


Nun gab es jüngst eine Studie, die seit 1999 jährlich in Nordrhein-Westfalen durchgeführt wird. Auch diese Studie zeigt: Es gibt zuviele Vorurteile über die Türkeistämmigen, Parallelgesellschaften, Segration, usw. sind große Ausnahmen:

Integrationsminister Guntram Schneider: "Türkeistämmige zeigen gesellschaftliches Engagement"

„Die Mehrzahl der Menschen türkischer Herkunft beteiligen sich aktiv und kooperativ am gesellschaftlichen Leben in Nordrhein-Westfalen – von bewusster Segregation kann nicht die Rede sein.
Das stimmt positiv und dieses Ergebnis deckt sich mit unserer Untersuchung zum Islam in Nordrhein-Westfalen“, sagte Integrationsminister Guntram Schneider anlässlich der Pressekonferenz zur Veröffentlichung der 11. Mehrthemenbefragung der Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung.
"Bürgerschaftliches Engagement trägt sehr viel zum gesellschaftlichen Zusammenhalt bei und baut Vorurteile auf beiden Seiten ab“, hob auch Prof. Dr. Uslucan, Wissenschaftlicher Direktor der Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung, hervor.
„95 % der türkeistämmigen Migranten haben Kontakte zu Deutschen, 40 % haben enge freundschaftliche Beziehungen. Auf eigenen Wunsch ohne Kontakte sind nur 2 %, das zeigt, dass von bewusster Segregation nur in Ausnahmefällen gesprochen werden kann“, sagte Schneider.
[...]
Wie sehr die Sarrazin-Debatte die Integrationsbemühungen erschwert hat, zeigt aber auch die von der Studie bestätigte aktuelle Zunahme der Diskriminierungswahrnehmung im letzten Jahr. ...
Weiterlesen im ZfTI.

Auf den letzten Punkt, geht immerhin die Welt in ihrem Artikel ein:

Türkische Zuwanderer fühlen sich "unerwünscht"
...
Die türkischstämmige Bevölkerung in Nordrhein-Westfalen fühlt sich nach einer Studie zunehmend diskriminiert. Nach der am Dienstag veröffentlichten 11. Mehrthemenbefragung des Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung klagen 81 Prozent der Zuwanderer aus der Türkei in dem Bundesland mit den meisten türkischstämmigen Einwohnern über „Diskriminierungserfahrungen“.
Dies sei der höchste Wert der letzten zehn Jahre, erklärte der Leiter des Zentrums, Haci-Halil Uslucan. Immer mehr Migranten hätten das Gefühl, „unerwünscht zu sein“ und „abgewiesen zu werden“. Dies sei „auch das Resultat“ der von Thilo Sarrazin mit seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ ausgelösten Zuwanderungs-Debatte, erklärte Uslucan....
Obwohl nun auch diese jüngste Studie in den Medien verbreitet wird, zumindest in jenen, die keine reinen Revolverblätter sind, bin ich überzeugt, dass sich in der Einstellung der Deutschen zu den Migranten oder Muslimen auch künftig nicht allzuviel ändern wird. Das liegt nicht zuletzt daran, dass hat die Feindbildforschung aufgezeigt, dass es bei diesen Vorurteilen weniger um das Gegenüber geht, sondern mehr um das Selbst. Um die eigene Identität in Abgrenzung zum vermeintlich "Anderen". Aber damit kommen wir schon zum Thema Feindbild Islam, welches ich hier im Blog schon mehrfach angeschnitten hatte (siehe die Labels auf der rechten Seite im Menü), und das ich nochmal genauer beleuchten möchte. Hier nur soviel als Appetithappen:




Die weiteren Teile des Vortrags bitte direkt bei Youtube anschauen.

Hier kann man sich direkt die Studienergebnisse als PDFs durchlesen:
ZfTI-Mehrthemenbefragung (Zusammenfassung)
ZfTI-Mehrthemenbefragung (Langfassung) 

Zum weiterlesen siehe auch: Navid Kermani: Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime, Verlag C.H. Beck, München 2009.

(Bildquelle: Wikimedia Commons, Trexer)

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